Jahres­konferenz 2022

Ukraine im Krieg: deutsch-ukrainische Beziehungen auf dem Prüfstand. Neue Wege für eine starke Partnerschaft.

Berlin + Online
12. - 13.10.2022

Ukraine im Krieg: Deutsch-Ukrainische Beziehungen auf dem Prüfstand. Neue Wege für eine starke Partnerschaft

 

Am 12. und 13. Oktober fand in Berlin die 17. Jahreskonferenz der Kyjiwer Gespräche statt. In drei Panels, einer Fishbowl-Diskussion, in Eröffnungsreden und Impulsvorträgen wurden die deutsch-ukrainischen Beziehungen analysiert und auf Leerstellen geprüft, Potenziale erörtert und Zukunftsperspektiven entworfen. Die Kyjiwer Gespräche veröffentlichten ein begleitendes Policy Paper zur Konferenz mit Politikempfehlungen für Bereiche einer verstärkten bilateralen Zusammenarbeit.

"Wenn wir die Ukraine durch diesen Krieg begleiten wollen, wenn wir mit ihr den Sieg, den
Frieden und den Wiederaufbau gestalten wollen, dann brauchen wir eine starke, eine ehrliche
Partnerschaft zwischen unseren Ländern“. Mit diesen Eingangsworten schuf Stefanie
SCHIFFER den kontextuellen Rahmen für die zweitätige Konferenz.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die deutsch-ukrainischen Beziehungen auf
eine strategische und existenzielle Ebene gerückt. Obwohl Deutschland international zu den
größten Unterstützern der Ukraine gehört, hat die zögerliche Haltung der Bundesregierung in
der ersten Kriegsphase zu einem präzedenzlosen Vertrauensverlust in der Ukraine geführt. Die
17. Jahreskonferenz der Kyjiwer Gespräche wollte unter anderem Wege identifizieren,
verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und die bilateralen Beziehungen in eine starke Zukunft
zu führen.

Echte Zeitenwende? Die deutsch-ukrainischen Beziehungen heute

Inna und Mattia NELLES kommen in unserem konferenzbegleitenden Policy Paper zu dem
Ergebnis, dass es trotz einiger Verständnisschwierigkeiten um die deutsch-ukrainischen
Beziehungen heute besser bestellt sei, als der öffentliche Diskurs nahelege. Sie führen dies auf
die mangelhafte strategische Kommunikation Deutschlands zurück und eine fehlgeleitete
deutsche Russland-Politik, die in der Ukraine jahrelang Irritationen hervorrief und den
deutschen Beitrag der Unterstützung für die Ukraine überschattete.

Die „Zeitenwende“ habe nun ein Fenster geöffnet, das die deutsch-ukrainischen Beziehungen
auf eine neue, eine strategische Basis zu stellen vermag. Deutschland sei in einer einzigartigen
Position, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen und eine führende Rolle beim ukrainischen
Wiederaufbau und der EU-Integration zu übernehmen.

Dieses Momentum spiegelte sich in den politischen Reden von Staatsminister Tobias LINDNER
und dem Abgeordneten Robin WAGENER wider. Ein Sieg der Ukraine sei unabdingbar für die
Aufrechterhaltung des internationalen Rechts und des langfristigen Friedens in Europa. Ein
ukrainischer Sieg bedeute, dass ein Friedensvertrag zu den Konditionen Kyjiws unterzeichnet
werde und Deutschland stehe fest an der Seite der Ukraine.

Der Sprecher des Parlaments der Ukraine Oleksandr KORNIENKO dankte für die militärische
Unterstützung, die vielen privaten Spenden und die Aufnahme Hunderttausender ukrainischer
Geflüchteter. Trotz des tragischen Anlasses schaffe die dadurch entstandene Nähe zwischen
Ukrainer*innen und Deutschen Raum für ein verbessertes gegenseitiges Verständnis, was sich
positiv auf die zukünftigen bilateralen Beziehungen auswirke, betonte Oleksandr SUSHKO.

Deutsch-ukrainische Beziehungen auf dem Prüfstand: Ein Blick zurück

Die Ukraine-Expertise sei unzureichend ausgebildet in Deutschland, begann Andrii PORTNOV
seinen Kurzvortrag für das Eröffnungspanel. Über Jahre hinweg warnte die Ukraine
Deutschland vor strategischen Fehlern in der Sicherheits- und Russlandpolitik aber sei immer
als emotional dargestellt worden, pflichtete Ljudmyla MELNYK bei. „Wir waren naiv sollte Wort
des Jahres werden“. Deutschland täte gut daran, seinen östlichen Partnern besser zuzuhören,
denn sie hätten ein ausgeprägtes institutionelles Wissen über Russland.

Ein weiterer strategischer Fehler sei die Blockade des Nato Membership Action Plans (MAP)
2008 durch Deutschland und Frankreich gewesen, für den die Ukrainerinnen und Ukrainer nun
mit dem Leben zahlten, kritisierte Halyna YANCHENKO.
Deutschland müsse sich nun für die Wiederherstellung der Souveränität und das Herbeiführen
einer starken Verhandlungsposition der Ukraine einsetzen, bekräftigte Roderich
KIESEWETTER.

Die deutsch-ukrainischen Beziehungen strategisch ausrichten

Die deutsch-ukrainischen Beziehungen können nur strategisch aufgebaut werden, wenn es
regelmäßige und verstetigte Foren für Diskurs gibt und bilaterale Formate ausgebaut werden.

Besonders beim EU-Beitrittsprozess ergibt sich die Notwendigkeit eines starken
parlamentarischen Austausches in allen Politikfeldern. Die deutsch-ukrainischen Beziehungen
sollten nicht nur zwischen Außen- und Verteidiungspolitiker*innen stattfinden, bei der
Europäisierung seien alle Politikfelder gefragt, die Zusammenarbeit zu stärken.

Dass die bilateralen Beziehungen als krisenhaft angesehen würden, sei auch eine Folge von
unzureichender Kommunikation, so Inna NELLES. Deutschland sei immer ein verlässlicher
Schlüsselpartner gewesen, der sich jedoch zu zurückhaltend in der strategischen
Kommunikation zeige.

Der Öffentlichkeit müsse offen erklärt werden, dass die Lebenshaltungskosten nicht durch die
Verteidigung der Ukraine, sondern durch den Verkauf kritischer Infrastruktur an Russland derart
stiegen.

Ein EU-Beitritt der Ukraine als Reformmotor und Garant für die Sicherheit Europas

Auf dem Euromaidan 2014 hatte sich die Ukraine für Europa entschieden und dafür einen
hohen Preis gezahlt, so Ivanna KLYMPUSH-TSYNTSANDZE, die aus Kyjiw zugeschaltet war.

Im Juni dieses Jahres erhielt die Ukraine offiziell den Beitrittskandidatenstatus der EU. Der
Beginn eines Prozesses, an dessen Ende die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union
steht.

Sowohl Politik als auch Zivilgesellschaft zögen an einem Strang, um die Ukraine fit für den
Beitritt zu machen. Alle Schritte des Wiederaufbaus sollten auf den EU-Beitritt der Ukraine
ausgerichtet sein, so Robin WAGENER, „Ich bin überzeugt davon, dass wir den Tag erleben
werden, an dem ukrainische Abgeordnete im Europaparlament unser aller Interessen vertreten
werden“.

Um den Beitritt zur EU zu beschleunigen, sollten die Beitrittsgespräche bereits offiziell eröffnet
und Etappenziele definiert werden, empfahl Alyona GETMANCHUK. So könne noch während
des Krieges eine Dynamik für weitere Reformen geschaffen werden. Die Meilensteine würden
auf dem langen Weg zur Vollmitgliedschaft Teilerfolge gewährleisten und der EU Zeit geben,
sich intern zu reformieren.

Die interne Reform betreffe vor allem die Einstimmigkeit und Veto-Rechte, die Prozesse
verlangsame. Der Beitrittsprozess müsse zügig und aktiv beschritten werden, um eine
Ermüdung wie auf dem Balkan vorzubeugen, so Anton HOFREITER. In einer sich schnell
verändernden Welt müsse auch Europa assertiver auftreten können. Ein Beitritt der Ukraine
würde die EU auch geostrategisch aufwerten. „Ohne die Ukraine wird das europäische Projekt
nicht erfolgreich“, bestätigte Ivanna KLYMPUSH-TSYNTSANDZE.

Die Westintegration trage eine große sicherheitspolitische Bedeutung. Nicht nur für die
Ukraine. Auch in Zentraleuropa wisse man um die schützende Rolle der EU- und NATO-Mitgliedschaft. „Russland forderte eine Rückkehr zu den NATO-Grenzen von 1997. Wir Tschechen sind erst 1999 der Nato beigetreten. Wir verstehen, dass die Ukraine auch unser
Schutzschild vor Russland ist“, merkte David STULIK an.

Zivilgesellschaftliche Kooperation beim Wiederaufbau

„Die Zivilgesellschaft hat dem ukrainischen Staat erneut eine starke Schulter geliehen“, eröffnete Tetiana SHEVSHUK das dritte Panel der Konferenz. Dies gelte nicht nur für die große
Anzahl an Freiwilligen bei der Verteidigung und der humanitären Hilfe, sondern auch bei der
Korruptionsbekämpfung. Denn bei der Verteidigung gehe es nicht nur um das Verdrängen der
Besatzer, es gehe um die Ukraine nach dem Krieg: „Ein Land in der Europäischen Union“. Die
große Unterstützung der ukrainischen Gesellschaft sei die wichtigste Quelle der
Widerstandsfähigkeit gegen die russische Aggression und den Wiederaufbau nach dem Sieg.

Die Zivilgesellschaft spielt eine große Rolle für den Wiederaufbau und dessen Erfolg und es ist
zu begrü.en, dass bereits jetzt einige zivilgesellschaftliche Vertreter*innen an der
Koordinierungsgruppe des BMZ und des BMI beteiligt sind. Die Dezentralisierungsreform habe
gezeigt, wie erfolgreich Politik gestaltet werden könne, wenn den Menschen mitgehalten
können. „Wenn Menschen in Prozesse eingebunden sind, dann packen sie richtig an. Das
sollten wir anstreben“, resümierte Nataliya PRYHORNYTSKA.

Förderung der Zivilgesellschaft: flexibel und bedarfsgerecht neu ausrichten

Deutschland hat seit 2014 die Demokratisierung und zivilgesellschaftliche Strukturen in der
Ukraine stark unterstützt. Insbesondere die Förderung der Dezentralisierungsreform ist nicht
zuletzt eine der strukturellen Resilienzfaktoren, die es der Ukraine heute ermöglicht, angesichts
der russischen Aggression zu bestehen. Die horizontalen Verbindungen zwischen Deutschland
und der Ukraine seien sehr stark, deren Strukturen durch eine flexiblere Bürokratie unterstützt
werden können.

Nichtsdestotrotz bedarf die Förderstrategie einer umfassenden Reform. Die Ukraine-Projekte
basieren auf dem Fördertopf der „Östlichen Partnerschaft und Russland“. Die Gruppierung der
Zielländer reproduziere eine nicht zeitgemäße Sicht auf das östliche Europa und suggeriere
eine ähnliche Bedarfsstruktur und Nähe der Zielländer, die nicht zutreffend sei. Das sei
strategisch und kommunikativ nicht problematisch, merkte ein Gast aus dem Publikum an.

Seit Februar offenbarten sich weitere Schwächen. Die Förderung ist aufgrund der
vergaberechtlichen Leitlinien nicht geeignet, um flexibel und zügig auf Krisen wie die
großangelegte russische Invasion zu reagieren. Viele NGOs und Volontäre haben ihre Arbeit
seit Beginn der Invasion umgestellt und seien nun in der humanitären Hilfe aktiv. Gute
Förderstrukturen müssen für solche Fälle Instrumente bereithalten, um handlungsfähig zu
bleiben.

Die Jahreskonferenz wurde umrahmt durch ein ukrainisches Kulturprogramm. Die begleitende
Ausstellung „SCHLAFLOS: Ukrainische Illustrationen des Krieges“ kuratiert von Kateryna
Mishchenko zeigt Bilder ukrainischer Künstler*innen, die während des Kriegs entstanden sind. Zum Abschluss des ersten Konferenztages spielte das Berliner Ethnojazz-Ensemble „GANNA“
unter Leitung der ukrainischen Künstlerin Ganna Gryniva. Ihre Musik verbindet ukrainische Folk-
Melodien mit Jazzklängen und überführt die Musiktraditionen verschiedener ukrainischer
Regionen in eine zeitgenössische ästhetische Sprache.

Wir bedanken uns herzlich bei unseren Projektpartnern der International Renaissance Foundation, unserem Co-Veranstalter der Heinrich-Böll-Stiftung sowie unseren Partnern und
Förderern:

Konrad-Adenauer-Stiftung
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Zentrum Liberale Moderne (LibMod)
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO)
Auswärtiges Amt.

Das Programm der Jahres­konferenz der Kyjiwer Gespräche:

Programm.pdf (1,5 MiB)