2023 sind die Kyjiwer Gespräche in fünf Regionen aktiv: Tscherkassy, Lwiw, Sakarpattja, Winnyzja und Wolyn. Wie unsere Partner zur sozialen Integration Binnenvertriebener in ihren Gemeinden beitragen und die Ukraine resilienter machen hat Journalist Dmytro Tuzhanskyi für uns aufgezeichnet.
Nach dem 24. Februar 2022 zeigte sich die ganze Welt überrascht von der gesellschaftlichen Resilienz der Ukraine und ihrem Widerstand gegen die russische Aggression.
Wer der Mär einer entzweiten, gespaltenen ukrainischen Gesellschaft aufgesessen war, wurde eines Besseren belehrt. Wer würde heute noch behaupten, die Ukraine sei nicht geeint oder sei gar ein „gescheiterter Staat“?
Dass die russische Propaganda nach wie vor die Existenz der Ukrainer*innen als ethnische Gruppe oder politische Nation bestreitet mag wenig verwundern, doch diese verfängt nur noch bei wenigen. Denn die Welt hat die Ukrainer*innen nun noch einmal neu als eine mutige, widerstandsfähige und geeinte Gesellschaft kennengelernt, die auch trotz des Krieges ihre Menschlichkeit und Warmherzigkeit nicht eingebüßt hat.
Und obwohl diese „neue Ukraine“ für viele in der Welt zum ersten Mal und wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein scheint, war die Resilienz der ukrainischen Gesellschaft kein zufälliges, kein spontanes Phänomen. Hinter ihr stehen eine Vielzahl von oft sehr lokalen und kleinen Initiativen, die von aktiven Bürger*innen auch in den kleinsten Gemeinden umgesetzt werden, die selbst Ukrainer*innen nicht so einfach auf der Landkarte finden.
Sie sind ein zentraler Teil der Widerstandsfähigkeit und Selbstorganisation, die der Ukraine hilft, die nun fast 500 Tage andauernde Invasion und die über neun Jahre währende russische Aggression zu überstehen.
Die Kyjiwer Gespräche unterstützen seit 2014 die Umsetzung solcher lokalen Initiativen in Dutzenden Gemeinden in der Ukraine. Seit der Totalinvasion Russlands haben sie nicht nur ihre Arbeit fortgesetzt, sondern diese auch stetig an die aktuellen Bedürfnisse und Anforderungen der Partner und Gemeinden angepasst, um der sich ständig verändernden Kriegssituation gerecht zu werden.
Die Kyjiwer Gespräche sind besonders in kleinen Gemeinden tätig, die nur wenig Aufmerksamkeit der großen internationalen Organisationen erlangen. Seit 2022 widmen sie sich der sozialen Integration von Binnenvertriebenen.
Lesen Sie im Folgenden mehr über die lokalen Partner der Kyjiwer Gespräche, die dieses Jahr in fünf Regionen der Ukraine unterstützt werden.
"Von April bis Juni dieses Jahres haben wir 13 Teams aus Ehrenamtlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren aus kleinen Dörfern und Städten der Region Tscherkassy ausgewählt. In den nächsten drei Monaten werden wir sie dabei unterstützen, sich organisatorisch weiterzuentwickeln und Kraft zu tanken, um mit neuer Energie durchzustarten", sagt Tetyana Kovalchuk, Projektkoordinatorin von Horyzont Smin ("Horizont der Veränderung").
“Wir orientieren unsere Arbeit vor allem an den Bedürfnissen der Gemeinden, mit denen wir arbeiten. Daher haben wir ein separates Gründungstreffen mit ihnen abgehalten, um ihre Anliegen zu hören, ihre Bedürfnisse zu verstehen und auf dieser Grundlage eine Reihe von Mentorentreffen und Selbsthilfegruppen zu planen."
Laut Tetyana betonten fast alle teilnehmenden Partner ihre emotionale Erschöpfung und den Mangel an Zeit und Ressourcen, um ihre Teams wieder aufzubauen und ihre Arbeit zu reflektieren. "Deshalb haben wir bereits einen Networking-Retreat in Kholodnyi Yar angeboten. Ein weiteres Event dieser Art ist bereits für August geplant."
Bei den Mentorentreffen geht es vor allem um Fundraising und die effektive Diversifizierung von Finanzierungsquellen. "Während Mentoring ein individuelles Treffen zwischen einem Team und einem bestimmten Fachmann ist, sind Selbsthilfegruppen ein kollektiver Wissens- und Erfahrungsaustausch. Unseren Beobachtungen zufolge ist dieses Format für Teams oft entscheidend für den Erwerb neuer Fähigkeiten und Fachkenntnisse, da die Teilnehmer*innen von Gleichgesinnten lernen, indem sie ihre eigenen Geschichten von Erfolg und Misserfolg erzählen", fügt Tetiana Kovalchuk hinzu.
Neben der Arbeit in der Heimatregion Tscherkassy ist Horyzont Smin auch auf nationaler und interregionaler Ebene tätig. Seit Mai koordinieren sie die Aktivitäten der Kyjiwer Gespräche in der Ukraine.
"Im Jahr 2021 hielten wir eine Strategiesitzung ab und beschlossen, dass unser Team nach 18 Jahren Arbeit über genügend Wissen und Erfahrung verfügt, um sich auf nationaler Ebene zu versuchen. Natürlich begann mit der russischen Invasion eine schwierige Zeit für alle, auch für unser Team, aber wir hielten unser Team zusammen und begannen schließlich, nicht nur in unserer Heimatregion zu arbeiten, sondern auch die Arbeit der Kyjiwer Gespräche in der Ukraine im Allgemeinen und in vier weiteren Schwerpunktregionen zu koordinieren - Sakarpattja, Lwiw, Winnyzja und Wolyn", sagt Tetiana.
Derzeit hilft das Team von Horyzont Smin bei der Organisation einer Sommerschule für Partner und Alumni der Kyjiwer Gespräche, die im August in Berlin stattfinden wird, und koordiniert eine Studie zur Situation der Binnenvertriebenen in der Ukraine. Diese wird internationalen Partnern bei der Verbesserung ihrer eigenen Arbeit zu diesem Thema dienen.
Darüber hinaus steht das Team von Horyzont Smin in ständigem Kontakt mit vier weiteren Partnerorganisationen der Kyjiwer Gespräche in der Ukraine. Nicht um der Aufsicht willen, sondern mit dem Ziel, Synergien zu schaffen.
"Natürlich kann nur wenig die Vertriebenen dafür entschädigen, dass sie nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Aber während es in Großstädten mittlerweile ein großes Angebot an verschiedenen Aktivitäten und Initiativen für Vertriebene gibt, haben kleine und abgelegene Gemeinden weniger, teils fast gar keine Angebote. In solchen Gemeinden arbeiten wir in Sakarpattja", erklärt Alina Shimon von Youth Space, einer Organisation, die seit 2018 mit den Kyjiwer Gesprächen zusammenarbeitet. "Dieses Jahr arbeiten wir in den Gemeinden Tyachiv, Yasinia und Bilky. Wir haben diese Gemeinden aufgrund der Anzahl der dort registrierten Binnenvertriebenen ausgewählt."
Für die kommenden Monate sind unter anderem Veranstaltungen zur psychologischen Entlastung, eine Schulung zu Projektmanagement, eine Wanderung auf den Hoverla [höchster Berg der Ukraine] sowie die Ausrichtung des Kleinprojektewettbewerbs der Kyjiwer Gespräche geplant. Initiativen können dabei einen von drei Mini-Zuschüssen im Wert von rund 30.000 UAH (~ 740,00 €) gewinnen.
Das wichtigste Kriterium und Ziel dieser Kleinstprojekte sind die Integration von Binnenvertriebenen und die Förderung des sozialen Kontakts mit den Gemeinden, in denen sie nun leben.
Das „Volyn Institute of Law" nutzt eine ähnliche Methode wie die Kolleg*innen aus Sakarpattja: In Luzk haben sie ein zweitägiges Netzwerktreffen mit Binnenvertriebenen, lokalen Aktivist*innen und Vertreter*innen der Gemeinderäte abgehalten, einen Mini-Grant-Wettbewerb ausgeschrieben. Vier Gewinner wurden bereits ausgewählt. Ihnen wird das Institut in den nächsten Monaten beratend zur Seite stehen und Schulungen zur Projektarbeit anbieten.
"Die Projekte, die wir zur Unterstützung ausgewählt haben, beziehen sich auf verschiedene Aspekte der Integration von Binnenvertriebenen. Dies schließt die kulturelle und wirtschaftliche Integration ebenso ein wie die Entwicklung von Kompetenzen zur psychologischen Betreuung. Wir hoffen, dass wir mit Wirtschaftvertretern in Wolyn zusammenarbeiten können, um Arbeitsplätze für die neuen Bewohner*innen der Gemeinden in der Region zu schaffen", sagt Iryna Haiduchyk, Koordinatorin des "Volyn Institute of Law".
Gemeinsam mit dem Team des Instituts unterstützen sie Gemeinden auch bei der Entwicklung spezifischer Integrationsprogramme für Binnenvertriebene. So wurde im Juni ein solches Programm in der Gemeinde Torchyn verabschiedet, das unter Mitwirkung von Expert*innen des Volyn Institute of Law entstand.
"Das Format der Regionalen Schulen für Partizipation ist unser etabliertes Projekt der letzten drei Jahre. Diesmal werden fünf Teams teilnehmen, denen jeweils sowohl Vertreter*innen der Zivilgesellschaft als auch der lokalen Behörden angehören. Wie in anderen Regionen, gibt es auch hier den Kleinprojektewettbewerb für Mini-Stipendien. Die Teams werden Projekte zur Integration von Binnenvertriebenen entwickeln und wir werden sie bewerten", erklärt Vitalii Dorokh von der NGO Prawo, die ihren Sitz in Chmilnyk hat und in der gesamten Region Winnyzja tätig ist.
Mit Hilfe der Kyjiwer Gespräche konnte das Team von Vitalii in diesem Jahr eine weitere Initiative umsetzen. "Zu Beginn des Jahres, als das ganze Land unter Stromausfällen litt, die durch den russischen Beschuss der Energieinfrastruktur verursacht wurden, baten wir unsere Berliner Partner von den Kyjiwer Gesprächen, LED-Laternen für die Vertriebenen zu kaufen. Daraufhin haben wir über eine Crowdfunding-Kampagne in Deutschland fast zweieinhalbtausend Euro eingesammelt, mit denen wir etwa 200 Laternen verteilen konnten", sagt Vitalii.
"Wir arbeiten nach wie vor mit Jugendlichen in der Region Lwiw - mit Schulabsolvent*innen aus Kleinstädten, die oft nicht dort bleiben, sondern in andere, größere Städte gehen, um dort zu studieren oder zu arbeiten. Zurzeit sind dies vier Städte, nämlich Welyki Mosty, Tscherwonohrad, Truskawets und Boryslav. "Es handelt sich dabei um zwei solcher 'Cluster', wie wir sagen", erklärt die Koordinatorin des "Eastern Gate" Centre for Civic Initiatives und Mitbegründer des Halabuda-Hubs, "zusätzlich zu der traditionellen Kleinprojekteförderungen bieten wir den jungen Menschen ein starkes Bildungsangebot an. Das sind vor allem Workshops zum Thema Führung, sowohl individuell als auch im Team, zur Suche nach Vorbildern oder zur Entwicklung eigener Leitbilder. Wir bringen ihnen bei, wie man mit der SMART-Methode und der Eisenhower-Matrix arbeitet. Außerdem veranstalten wir Debatten".
Die Mikro-Förderungen werden für die Entwicklung von Jugendräumen oder die Organisation von Angeboten für junge Menschen in den einbezogenen Städten verwendet. Insgesamt haben etwa 100 Schüler an der ersten Welle der Trainings teilgenommen, was für die Abschlusszeit [vergleichbar mit der Abiturphase - MM] eine unerwartet hohe Zahl ist.
Alle Fotos wurden von den Partnern der Kyjiwer Gespräche zur Verfügung gestellt.