„Cherson ist besetzt, bleibt aber weiterhin ukrainisch“

Cherson, eine Stadt im Süden der Ukraine, wurde bereits in der ersten Woche nach dem flächendeckenden Angriff auf die Ukraine von der russischen Armee besetzt. Ein Einwohner der Stadt beschreibt, wie der Alltag dort jetzt aussieht. Cherson sollte eigentlich eine der Regionen werden, in denen die Kyjiwer Gespräche dieses Jahr tätig sein wollten. Dies ist nun nicht möglich. Wir hoffen die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft vor Ort nach der Befreiung wieder aufzunehmen.

Von Les Dworkin*, Cherson. Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.

An die erste Explosion erinnere ich mich gut. Es war fünf Uhr morgens, irgendwo in der Ferne, aber bei uns zitterten die Scheiben. Wir hörten die Nachbarn über uns in ihrer Wohnung herumpoltern. Draußen war es noch dunkel. Für gewöhnlich ist es auf der Straße um diese Zeit ruhig und niemand ist unterwegs, aber jetzt rasten Autos in alle Richtungen. Ich öffnete Facebook und der erste Post lautete: „Leute, es ist Krieg.”

Zwei Stunden später waren zwei weitere heftige Explosionen zu hören. Diesmal waren sie näher bei uns, alles in der Wohnung bebte. Aus Richtung Flughafen stieg dichter Rauch auf, unten auf der Straße verstauten Nachbarn hastig Taschen und Koffer in ihren Autos und fuhren davon. Ich sah zwei Polizisten mit Maschinenpistolen und ratlosen Gesichtern.

Bewohner*innen unseres Hauses richteten im Untergeschoss einen Luftschutzkeller für alle ein. Dort ist es kalt und feucht. Die ersten Gerüchte über Terrorgruppen und Sabotageakte machten die Runde: „Fremde kennzeichnen Häuser. Lasst niemanden aufs Dach.” „Die gehen direkt zu den Luftschutzkellern und eröffnen das Feuer.” „Dieser Mistkerl im Kreml, mit bloßen Händen könnte ich den erwürgen”, brachte es eine alte Dame auf den Punkt.

Am Abend wurde ich von den zwei Polizisten mit MPs angehalten, sie überprüften meine Papiere und sagten: „Gehen Sie nach Hause und bleiben Sie in Ihrer Wohnung, hier kommen jeden Moment die Russen.”

Innerhalb einer Woche war die Stadt umzingelt. Autos, Laster und Panzer mit dem „Z”-Zeichen rollten durch die Straßen. Die Sirenen von Polizeiautos und Krankenwagen verstummten, stattdessen hörte man nachts Maschinengewehrfeuer und Explosionen. In Cherson selbst wurde nicht gekämpft. Aus meinem Bekanntenkreis hatten sich einige zur Territorialverteidigung gemeldet, wurden aber wieder nach Hause geschickt, sie sollten auf „ihre Einberufung” warten. Eine Gruppe junger Männer versuchte, die Besatzer am Abend, bevor sie in die Stadt eindrangen, am Stadtrand aufzuhalten, doch statt eines Gefechts gab es ein Blutbad. Alle kamen zu Tode.

Die russischen Besatzer halten etliche Gebäude in der Stadt besetzt, darunter die Regionalverwaltung. Gleichzeitig setzen die städtischen Behörden ihre Arbeit fort, und die ukrainischen Flaggen bleiben weiterhin gehisst. Ich bin ratlos, wie ich auf fragende Nachrichten von Freund*innen und meiner Familie reagieren soll. „Die Stadt ist besetzt, bleibt aber weiterhin ukrainisch.” Wie ich das präziser beschreiben soll, weiß ich nicht. Es gab keine öffentliche Bekanntmachung.

Am ersten Tag der Besatzung brannte das russische Militär eines der größten Einkaufszentren der ganzen südlichen Ukraine nieder. Das Feuer konnte nicht gelöscht werden, da der Löschzug beschossen wurde. Weitere Geschosse trafen Wohnhäuser und Schulen. Später wurde der Sitz des Inlandsgeheimdienstes SBU von Panzern umstellt und russische Fahnen aus den Fenstern gehängt.


Ausblick auf das inzwischen bekannte Dorf Tschornobajiwka, in dem die russische Armee mehrmals versucht hat, Militärtechnik zu stationieren. Diese wurde aber wiederholt von den ukrainischen Streitkräften zerstört. Foto: privat


Vom 24. Februar an war es nur noch schwer möglich, die Stadt zu verlassen. Gleich am ersten Abend wurde der Bahnhof geschlossen und der Zugverkehr eingestellt. Im Moment schaffen es immer mal wieder Leute aus der Stadt heraus, aber es ist gefährlich. Es kommt vor, dass Autos mit Zivilist*innen unter Beschuss genommen werden. Hinzu kommt, dass Mykolajiw, das nur 60 Kilometer von Cherson entfernt ist, noch immer umkämpft ist.

Cherson liegt in der Südukraine. Die Mehrheit der 300.000 Einwohner*innen hier ist russischsprachig. Dennoch hat die Bevölkerung in Cherson ab dem ersten Tag der Besatzung friedlich protestiert. Jeden Tag versammeln sich Menschen mit ukrainischen Flaggen auf dem Freiheitsplatz, direkt gegenüber der Regionalverwaltung. Die Besatzer haben anfangs versucht, sie zu vertreiben, in die Luft geschossen und Tränengasgranaten geworfen. Nach den Organisator*innen der Demonstrationen wird gefahndet. Neben dem Militär sind in der Stadt auch Angehörige der Russischen Nationalgarde Rosgwardija stationiert.

In Cherson gibt es keine Kampfhandlungen, auch Guerillaaktionen finden keine statt. Die Einwohner*innen nehmen aber weiterhin ihre ukrainischen Flaggen und gehen zum Freiheitsplatz, um ihrer Haltung Ausdruck zu verleihen: Cherson ist eine ukrainische Stadt. Unter den Protestierenden sind junge Menschen, ältere Menschen und Eltern mit kleinen Kindern. Es gab bereits erste Verletzte und erste Fälle von Entführungen durch russische Soldaten.

Das Fernsehen strahlt keine ukrainischen Sender mehr aus, nur noch russische. Mobilfunk und Internet fallen manchmal aus, und in den Vorstädten gibt es gravierende Probleme mit der Strom-, Gas- und Wasserversorgung.


Park des Ruhmes in Cherson. Foto: privat


Am 13. März, dem Tag der Befreiung Chersons von der nationalsozialistischen Besatzung, gab es eine Demonstration unter der roten Sowjetflagge, die von lokalen Separatisten veranstaltet wurde. Zu ihnen zählen ein früherer Bürgermeister, einige Abgeordnete und ein pro-russischer Blogger. Ihr Aufmarsch wurde jedoch von pro-ukrainischen Demonstrant*innen durchkreuzt. Die Separatisten steigen daraufhin in gepanzerte russische Fahrzeuge und fuhren zur besetzten Regionalverwaltung.

Später veröffentlichten sie eine Videobotschaft: Die städtischen Behörden würden nicht mehr existieren, deshalb hätten sie ein sogenanntes „Komitee zur Rettung von Frieden und Ordnung” berufen, die Russische Föderation würde Cherson nun dabei helfen, für Recht und Ordnung zu sorgen. Dabei ist die Stadtverwaltung noch immer unter ukrainischer Flagge an der Arbeit, auch der öffentliche Nahverkehr und kommunale Dienstleistungen funktionieren. Weitere Statements kamen vonseiten der Separatist*innen dann keine mehr, dafür begannen sie mit der Ausgabe von humanitären Hilfsgütern aus Russland: Lebensmittel direkt von den Militärlastwagen mit dem „Z”. Die Menschen in Cherson beteiligen sich an derartigen Verteilaktionen nur widerwillig.

Einige Geschäfte im Stadtgebiet haben noch geöffnet, aber nur bis 14 Uhr. Manchmal sind die Regale so gut wie leer, im besten Fall sind sie halbvoll. Milchprodukte gibt es nicht immer, auch die Versorgung mit Brot schwankt. Bestimmte Waren werden rationiert, nur ein Laib Brot pro Person, höchstens zwei Kilo Mehl und so weiter. Vormittags fühlt man sich immer wie zu Zeiten der Perestroika. Überall lange Schlangen, man fragt sich gegenseitig: „Was haben die hier?”, „Gibt’s hier Milch?”, „Kann man mit Karte zahlen?”. Andere harren schweigend in der Schlange aus. Wenn bei einem Geschäft die Türen offen stehen, aber niemand davor ansteht, braucht man gar nicht erst hineinzugehen, da gibt es dann sowieso nichts. In den wenigen noch geöffneten Apotheken werden nur Vitaminpräparate und Desinfektionsmittel abgegeben.


Der Hafen von Cherson. Foto: privat


Bargeld ist ein Problem für sich. Die Schlangen vor den Geldautomaten sind noch länger als die vor den Läden. „Ich stehe hier seit 8 Uhr, jetzt ist es 12 Uhr und die Scheine sind alle”, sagt ein Mann in der Schlange. „Aber ich bleibe, es soll noch Geld geliefert werden.” Eine halbe Stunde später ist die Schlange weiter angewachsen, frisches Geld wurde nicht gebracht. Seit Kriegsbeginn sind die meisten Banken geschlossen.

Die Gespräche mit meinen Liebsten drehen sich im Moment darum, wer heute wo einkaufen war und was er ergattert hat, um den Kühlschrank zu füllen. „Wir standen an und plötzlich krachte irgendwas, alle schraken zusammen”, erzählt meine Mutter am Telefon, „aber wir sind stehen geblieben, die Schlange ist etwas Heiliges.”

Die Explosionen, deren Krach der Wind aus Mykolajiw heranträgt, sind schon zur Gewohnheit geworden. Die Kämpfe dort dauern noch immer an. Wenn es Luftalarm gibt, geht eigentlich niemand mehr in die Schutzkeller. Hört man eine besonders laute Explosion, schauen alle in den Himmel: „Die Flugabwehr macht einen guten Job. Da, die Rauchwolke. Bestimmt kommen gleich unsere.” Die Fahrzeuge mit dem „Z” fahren weiterhin durch die Straßen, manchmal tauchen gepanzerte Fahrzeuge mit Maschinengewehren auch in den Höfen auf. Die Russen machen Razzien und verhaften Menschen.

Dennoch gehen die Menschen weiterhin auf den Freiheitsplatz, um ihre Meinung kundzutun und die russischen Soldaten zumindest mit der Macht des Wortes zu verjagen.

* Name des Autors geändert

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