Der Krieg und die Kraft der Zivilgesellschaft. Ein Reisebericht von Rebecca Harms

Im Juni traf sich ein Team der Kyjiwer Gespräche mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in Lwiw, um sich ein Bild von ihrer Arbeit unter Kriegsbedingungen zu machen. Rebecca Harms hat ihre Gesprächseindrücke für uns notiert.  

Vier Monate nach dem Beginn des flächendeckenden Krieges Russlands gegen die Ukraine reisten Tetiana Lopashchuk, Stefanie Schiffer und ich nach Lwiw. Wir wollten uns mit den Partnern der Kyjiwer Gespräche und mit Leuten aus den Projekten treffen, die wir unterstützen. Sie arbeiten nach der Flucht aus dem Süden, dem Osten oder auch aus Kyjiw nun von Lwiw oder auch von Uschhorod aus.

Deutschland und Frankreich haben viel Vertrauen verspielt

Die Woche, die wir in Lwiw verbrachten, war auch die Woche, in der Kanzler Scholz mit Präsident Macron, Präsident Johannis und Premierminister Draghi nach Kyjiw reisten. In allen unseren Gesprächen spielte die Frage des EU-Kandidatenstatus und die Waffenlieferungen aus Deutschland für die Ukraine eine große Rolle. Als wir ankamen, war auch noch völlig offen, wie die Entscheidung zum Kandidatenstatus ausgehen würde. Unsere Gesprächspartner*innen dazu in Berlin oder Brüssel hatten alles offengelassen. Die Skepsis in Brüssel war groß, ob insbesondere die Deutschen und die Franzosen in der Frage zur Erweiterung der EU über ihren Schatten springen würden.

Die Stimmung, die in Lwiw herrschte, ist einfach zu beschreiben. Wir trafen einfach niemanden, der wirklich Positives aus Paris oder Berlin erwartete. Die Diskussion über Waffenlieferungen zählt für die Ukrainer*innen zu den enttäuschendsten Erfahrungen der letzten Monate. Viele von denen, die sich immer wieder engagieren und argumentieren, sind langsam zermürbt oder retten sich in Galgenhumor. Den Satz "die Deutschen liefern wohl lieber Prothesen als Geschütze" werde ich nicht vergessen. Einer meiner langjährigen Freunde empfing mich damit. Und ich muss dazu sagen, dass dieser Freund, Juri Durkot, einer der freundlichsten und geduldigsten Menschen ist, die ich in der Ukraine je getroffen habe.

Zum Kandidatenstatus wagte kaum jemand, einfach auf ein positives Ergebnis zu hoffen. Ein Nein wäre zwar unfair, um nicht zu sagen unanständig. Aber nach allen Erfahrungen gingen die, die wir trafen, davon aus, dass in Berlin und Paris gedacht werde, die Ukrainer*innen müssten doch froh und dankbar sein, wenn ihnen der Stuhl nicht erneut einfach vor die Tür gestellt werden würde. Es kam dann anders, während der überfälligen Reise des Bundeskanzlers, die er zusammen mit den Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Italien und Rumänien unternahm. Und es war gut, dass wir während unseres Besuches mit Freundinnen und Freunden über den Dächern von Lwiw auf den Durchbruch im Europäischen Rat anstoßen konnten, der in Kyjiw verkündet wurde.

 

Bürgermeister von Lwiw Andrij Sadowyj, Foto: Lwiw Stadtrat

Der EU-Kandidatenstatus muss Motor für mehr Unterstützung werden

Der Toast, den wir deutsch-ukrainisch ausbrachten, galt allerdings nicht Scholz, Macron, Draghi oder Johannis. Er galt Präsidentin von der Leyen und Präsident Selenskyj, die genug politischen Mut bewiesen, die Türen in die EU für die Ukraine und die Republik Moldau endlich aufzustoßen. Den meisten Deutschen ist bis heute wohl nicht klar, dass es auch ihre Regierung war, die diese Türen viele Jahre lang mit aller Kraft verschlossen gehalten hatte. Damit hatte sie nicht nur den Ukrainer*innen sondern auch dem Kreml das Zeichen gesendet, dass das Land nicht wirklich zur EU passe. Die deutsche Regierung gehörte zu denen, die aus dem Assoziierungsvertrag eine Alternative zur Mitgliedschaft gemacht hatten. Die Folgen solcher falschen Signale tragen die Ukrainer*innen nun in fürchterlicher Weise.

Das Wichtigste wird nun sein, dass dieses neue Versprechen von Seiten der EU, das die Ukrainer*innen als Signal in der schrecklichen Zeit des Kriegs brauchten, nicht dazu führt, dass in anderen Bereichen weiter zu wenig geschieht. Der EU-Kandidatenstatus muss für die Mitglieder des Europäischen Rates die Verpflichtung sein, mehr und besser und schneller die Waffen zu liefern, die die Ukraine braucht, um den russischen Vernichtungskrieg abzuwehren, sich zu verteidigen und zu gewinnen. Zwei Wochen nach den Gesprächen in Lwiw habe ich noch nicht den Eindruck, dass das ausreichend passiert. Ich lasse das in diesem Bericht so stehen und vertiefe die Diskussion zu Waffenlieferungen hier nicht. Andere haben dazu alles Notwendige und Richtige gesagt. Aber ein Fazit aller Gespräche in Lwiw war, dass mehr und besser geeignete Waffen die Chancen gegen die russische Armee verbessert und einen anderen Kriegsverlauf bewirkt hätten.

Zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen Menschen in den besetzten Gebieten

Im Mittelpunkt unserer Reise stand die Frage, wie die ukrainische Zivilgesellschaft unter den Bedingungen des Krieges und nach der Vertreibung aus ihren Heimatorten arbeitet. Die allermeisten Aktiven der Zivilgesellschaft haben ihre Arbeit seit Beginn des Krieges auf Hilfe in der Not fokussiert. Wie schon nach 2014 geht es um die Unterstützung der Armee und der Zivilgesellschaft in den umkämpften Städten und Regionen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, medizinischer Behandlung oder auch Hilfe bei der Flucht sind die großen Aufgaben. Nicht alle, die aus Mariupol oder Kramatorsk vertrieben wurden, sind vor den russischen Bomben und Soldaten bis Kyjiw oder weiter geflohen. Auch viele derjenigen, die sich in unterschiedlichsten Bereichen der Zivilgesellschaft engagiert hatten, verbleiben bewusst in der Nähe der Heimatorte. Von dort aus organisieren sie immer noch Hilfe für die Menschen, die in den besetzten Gebieten zurückgeblieben sind. Wir hörten eindrucksvolle Berichte zu Cherson.

Die Versorgung Geflüchteter ist eine sehr große humanitäre Herausforderung

Die Aufgaben, vor denen die Regionen in der Ukraine jetzt stehen, auch wenn sie nicht zu den Kampfgebieten gehören, erschienen uns gigantisch. Die Region Lwiw hat 330.000 registrierte Binnenflüchtlinge. Die Bedingungen, unter denen sie leben, sind sehr unterschiedlich und oft nicht gut. Weiterhin gibt es viele Massenquartiere in Turnhallen, Schulen und Kindergärten. Der Plan sei, diese Massenquartiere bis zum Schulbeginn nach dem Sommer zu ersetzen. Die Schaffung von neuem Wohnraum ginge aber noch nicht voran. In den Massenquartieren übernachteten gerade auch die Menschen, die keine Rückkehrmöglichkeit hätten, deren Wohnungen und Häuser zerstört seien, die wenig Geld und keine Familie hätten, bei denen sie unterkommen könnten. Besondere Aufmerksamkeit wäre auch für alte Menschen notwendig.

Neben der Unterbringung in Massenquartieren sei auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln ein großes Problem und es gäbe sogar Situationen, in denen Menschen hungerten. Die gelieferten Nahrungsmittel müssten zum Teil gekocht werden, ohne dass es dazu in den großen zentralen Unterkünften die Möglichkeit gäbe. Auch die medizinische Versorgung und die Beratung der Binnenflüchtlinge sei nicht überall gut. Viele der alten Menschen können sich nicht gut umorientieren an den neuen Orten. Viele sind nach der Flucht traumatisiert von den ungeheuren Schrecken, die sie bei den Angriffen erlebt oder beobachtet haben. Viele sind auch sehr schwer verletzt und brauchen bessere Behandlung.

Die Zeit seit dem Beginn des Angriffskrieges ist für die ukrainische Gesellschaft unvorstellbar fordernd gewesen. Auf der einen Seite vollbringen sie eine enorme gesellschaftliche Leistung. Die Armee und das ganze Land ist stark zusammengerückt und hat eine Stärke entwickelt, die es in Friedenszeiten nicht gäbe. Eine große Extraportion Mut und Kraft ist entstanden. Wir wurden darauf aufmerksam gemacht, dass spürbar werde, dass viele gute und wichtige Leute im Ausland seien, die natürlich für die Aufgaben im Land fehlten.

Nach vier Monaten ununterbrochener Arbeit am Limit trete langsam eine Erschöpfung ein. Die Arbeit in der humanitären Hilfe sei so fordernd, dass viele den Horror des Erlebten damit überdeckten. Aber die traumatischen Erlebnisse und die unablässigen Nachrichten über Tod, Verwundung oder Deportation von Freund*innen und Bekannten seien Teil der Erschöpfung. Ich berichte von dieser Erschöpfung, weil ich denke, dass tatsächlich dieser Teil der Anstrengungen für eine Zukunft der Ukraine unbedingt bestmöglich unterstützt werden muss.

Die Koordination der internationalen Hilfen mit ukrainischen Organisationen muss verbessert werden

Die Zusammenarbeit der ukrainischen Zivilgesellschaft, der ukrainischen Behörden und der internationalen Organisationen muss besser werden. Obwohl es ja sehr große finanzielle Zusagen und auch Pläne der Internationalen Gemeinschaft gibt, sei bisher davon wenig in der Ukraine angekommen.

Wir hörten während unseres Besuches eher Fragen zu den großen Hilfsorganisationen und ihrem Engagement. Zahlen, die wir zum finanziellen Anteil der Leistungen der Zivilgesellschaft im Vergleich zu den Leistungen der internationalen Gemeinschaft bekamen, waren erschütternd negativ. 

Abbildungen aus: HUMANITARIAN OUTCOMES: "Enabling the local response: Emerging humanitarian priorities in Ukraine March-May 2022"

Inzwischen heißt es, dass nur 15 Prozent der zugesagten Hilfen bisher eingetroffen seien. Das muss sich unbedingt ändern. Uns schien, dass noch sehr viel zu tun ist, für Wohnraum, Infrastruktur und Versorgung aller Art, damit die Ukrainer*innen besser auf den Winter vorbereitet sind. Und dabei geht es um Aufgaben, die von der Zivilgesellschaft mit begleitet aber nicht geleistet werden können.

Keine Angst vor einer Machtvertikalen

Wir sprachen auch über die Arbeit der Zivilgesellschaft unter den Bedingungen des Kriegsrechtes. Alle Aktiven aus unseren Partnerorganisationen und anderen Gruppen in Lwiw, die wir trafen, hatten gute Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit den Behörden einschliesslich der Militärverwaltung gemacht. Es sei ja klar, dass es eine neue Machtkonzentration gäbe. Aber es sei auch sichtbar, wie die Dezentralisierung und die damit verbundenen Reformen der letzten Jahre wirkten. So seien neben dem Präsidenten Selenskyj und dem Chef der Armee die Bürgermeister*innen vieler Städte nun die wichtigsten politischen Akteur*innen. Befürchtungen, dass die derzeitige Machtkonzentration das System dauerhaft verändern könnte, teilen nur die allerwenigsten. Das wichtigste Argument dagegen ist, dass die Gesellschaft das nicht zulassen werde. Es sei selbstverständlich, dass der Krieg und die Verteidigung Strukturen erforderten, die weniger transparent und inklusiv seien, als man sich das wünsche. Es werde akzeptiert. Aber es gäbe auch Diskussionen, wie die Unabhängigkeit der Medien und der Information gesichert und die Transparenz der Verteilung der Hilfsgüter gerecht und transparent organisiert werden könne.

Im Gespräch mit Andrij Sadowyj. Foto: Stadtrat Lwiw

Ein partizipativer Prozess zum Wiederaufbau hat bereits begonnen

Eine Diskussion kreiste um den Wiederaufbau, den großen Recovery Plan. Dazu solle ein Masterplan erstellt werden. Die Regierung habe bereits einen großen Prozess in Gang gesetzt, in dem etliche Arbeitsgruppen unter Beteiligung aller staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen Vorschläge entwickelten.

Allerdings sei noch unklar, nach welchen Prinzipien und Prioritäten und von wem Entscheidungen getroffen würden, oder wie diese Entscheidungen dann umgesetzt werden sollten. Fest stehe, dass den Bürgermeister*innen und Gemeinden eine große Rolle zukommen müsste. Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft werde gebraucht, um Vertrauen in die Prozesse zu gewährleisten.

Unser Besuch hat gezeigt, wie wichtig auch weiterhin die Arbeit der Zivilgesellschaft in der Ukraine sein wird. Allerdings steht das Land bis zum Winter vor sehr großen Aufgaben, die die Möglichkeiten engagierter Bürger*innen einfach sprengen. Die Fragen aus der Zivilgesellschaft, wo und wie die große zugesagte internationale Hilfe das Land erreicht, müssen dringend in den internationalen Hilfsorganisationen, unter den geldgebenden Staaten und der Europäischen Union geklärt werden.  

Rebecca Harms ist ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments (Die Grünen/EFA 2004-2019) und Beirätin der Kyjiwer Gespräche.

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