Zwischen Vertrauensverlust und starker Partnerschaft. Wie denkt die Ukraine über Deutschland?

Im Vorfeld der 17. Jahreskonferenz der Kyjiwer Gespräche, die dieses Jahr die deutsch-ukrainischen Beziehungen thematisiert, haben wir den Journalisten Denis Trubetskoy um eine Momentaufnahme aus Kyjiw gebeten. Wird Deutschland von ukrainischer Seite als verlässlicher Partner gesehen? Welche Themen bestimmen das Deutschlandbild besonders?

Von Denis Trubetskoy

Seit Beginn der russischen Aggressionen gegen die Ukraine durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im März 2014 wurde Berlin als einer der wichtigsten internationalen Partner Kyjiws angesehen. Als die ukrainische Armee im Februar 2015 kurz vor der militärischen Niederlage im Donbas-Krieg stand, übernahm die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die Vermittlerrolle zur Beilegung des Konflikts. Das sogenannte Normandie-Format führte zur Unterzeichnung der zweiten Minsker Vereinbarungen.

Das für Kyjiw ungünstige Minsker Abkommen stand in der Ukraine zwar von Anfang an unter Kritik, es fehlte jedoch damals an realistischen Alternativen und Merkels Einsatz für die Verhinderung einer Eskalation wurde hoch geschätzt.

Nicht zufällig lag die Ex-Bundeskanzlerin stets auf dem zweiten Rang unter den beliebtesten ausländischen Politiker*innen in der Ukraine. Bis zu den skandalösen belarussischen Präsidentschaftswahlen im August 2020 ausgerechnet hinter Alexander Lukaschenko.

Enttäuschung über Nord Stream 2

Die öffentliche Meinung begann sich allerdings noch in den späten Merkel-Jahren zu drehen, als in der ukrainischen Gesellschaft das Unverständnis dafür wuchs, wie Deutschland ausgerechnet nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Donbas-Krieges grünes Licht für den Bau der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2 geben konnte.

So wurde Merkel bei ihrer letzten Ukraine-Reise im August 2021 bemerkenswert kühl in Kyjiw empfangen und Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich bei der Pressekonferenz stellenweise sichtlich genervt.

Die ukrainische Seite signalisierte dadurch ihr Unverständnis mit der gemeinsamen Erklärung Berlins und Washingtons zu Nord Stream 2. Die Erklärung sah zwar Sanktionen vor, falls Russland die Pipeline als "politische Waffe" einsetzen würde, konkrete Maßnahmen blieben jedoch aus.

Die zögerliche Haltung hat Deutschland Vertrauen gekostet

Nach dem Beginn der großen Invasion am 24. Februar 2022 machten einige Ukrainer*innen Deutschland wegen Nord Stream 2, aber auch wegen der schwachen Sanktionsreaktion auf die Annexion der Krim und des Donbas-Krieges mitverantwortlich für die Eskalation.

Demonstrantin in Berlin, März 2022. Foto: Olexiy Bardadym

Sie hatten sich vom „führenden Land Europas“ mehr erhofft. Dies mag auch zum Skandal um die Ausladung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier beigetragen haben, der im April zusammen mit den Präsidenten Polens, Lettlands und Litauens nach Kyjiw reisen wollte.

Die Äußerung Steinmeiers, die den Bau von Nord Stream 2 mit der historischen Verantwortung vor Russland begründete, stieß in der Ukraine auf Unverständnis und nicht nur der scheidende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk kritisierte diese scharf.

Neben den von Teilen der Bevölkerung als unzureichend angesehenen Waffenlieferungen kommt in der Kritik an Deutschland noch eine Ebene hinzu: Bei der Sanktionspolitik oder anderen EU-Entscheidungen scheint Deutschland besonders zögerlich zu sein. So betonte der Außenminister Dmytro Kuleba neulich in einem Interview mit dem Journalisten Dmytro Gordon, dass Deutschland und die Niederlande als letzte überzeugt werden mussten, dem EU-Kandidatenstatus für sein Land zuzustimmen.

Doch wie sehen die Ukrainer*innen Deutschland tatsächlich? Die existierenden Umfragen kommen zum Ergebnis, dass Deutschland trotz aller Kritik vergleichsweise positiv abschneidet.

Ende 2021 befragte das analytische Zentrum "Stiftung Demokratische Initiativen" Ukrainer*innen, welche Länder Ost- und Zentraleuropas aus ihrer Sicht die EU-Mitgliedschaft der Ukraine am stärksten unterstützen. Deutschland kam mit 46 Prozent auf Rang vier direkt hinter Polen (59 Prozent), Litauen (56 Prozent) und Tschechien (46 Prozent). Auf die Frage, wessen Staatsbürger aus der gleichen Region die Ukrainer*innen gerne zu Hause empfangen würden, schnitten die Deutschen mit 73,5 Prozent noch besser ab. Nur Polen lag mit 74 Prozent weiter vorne.

Nach dem Beginn der großen russischen Invasion gibt es jedoch in der Tat einen gewissen Negativtrend. Die "Stiftung Demokratische Initiativen" hat im Februar 2021 und im Mai 2022 Ukrainer*innen gefragt, welche Länder die größten Verbündeten der Ukraine seien. Hier ist anzumerken, dass letztere Umfrage aus Sicherheitsgründen nur in der Zentral- und Westukraine Face-to-Face durchgeführt wurde. Außerdem durften die Bürger nur drei Varianten ankreuzen. So ist der Wert von Deutschland von 28 auf 14 Prozent gesunken, während Großbritannien von sechs auf 66 Prozent, Polen von 35 auf 65 Prozent und die USA von 38 auf 63 Prozent aufstiegen.

Eine Katastrophe ist das aber sicher nicht: Da sich die USA, Polen und Großbritannien besonders durch die militärische Unterstützung der Ukraine ausgezeichnet haben ist es wenig überraschend, dass die allermeisten Ukrainer*innen diese drei Länder ankreuzten.

"Die ukrainische Gesellschaft ist anders als die deutsche sehr emotional, und es kann durchaus sein, dass sich gewisse Stereotype verbreiten, weil manche Hilfen zu langsam kommen", sagt der dem Team des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nahestehende Politologe Wolodymyr Fessenko, der das Zentrum für angewandte politische Forschung "Penta" führt.

"'Wer uns nicht genug hilft, ist kein Freund für uns'. Das ist eine absolut inakzeptable Position. Ich möchte ganz deutlich betonen: Deutschland war, ist und wird immer wichtiger Partner der Ukraine sein, auch explizit was die wirtschaftlichen Fragen angeht. Die antideutschen Positionen sind aktuell absolut inakzeptabel."

Der ukrainische Botschafter als Reizfigur

Fessenko, der zu den prominentesten Politikwissenschaftlern des Landes gehört, kritisiert in dieser Hinsicht zusätzlich den Botschafter Andrij Melnyk scharf: "Melnyk agierte nie als Diplomat, sondern als Politiker, der sich auf das ukrainische Publikum orientierte. Das ist nicht der richtige Weg, das habe ich immer wieder kritisiert."

Vielen Ukrainer*innen ist zwar das Ausmaß von Melnyks Bekanntheit in Deutschland nicht ganz bewusst, zu Hause ist seine Art der Diplomatie aber immer gut angekommen. So wurde die Botschaft im Berlin vom ukrainischen außenpolitischen Think Tank Ukrajinska Prisma noch Ende 2020 als produktivste Botschaft der Ukraine ausgezeichnet.

Auch Olexij Haran, Professor für Politologie an der renommierten Kyjiw-Mohyla-Akademie, sieht Melnyks Tätigkeit weniger kritisch als Fessenko. "Natürlich hat er die Grenzen der traditionellen Diplomatie überschritten. Das ist aber dadurch zu erklären, dass viele in Deutschland uns trotz allem von der Notwendigkeit der Zugeständnisse an Russland überzeugen wollten", betont er. "Die deutsche Gesellschaft musste dringend geweckt werden. Auch Selenskyj selbst hat ja in der Situation um Steinmeier sozusagen die Zähne gezeigt. In Extremsituationen muss man das selbst gegenüber den eigenen Partnern machen."

Von Melnyks Nachfolger Oleksij Makejew, der zuletzt im ukrainischen Außenministerium für die Sanktionspolitik verantwortlich war, erwartet Haran leisere Töne. "Er ist ein erfahrener Diplomat, eine Stiländerung wird es sicher geben. In der Sache wird sich jedoch nichts ändern. Unser Volk verteidigt gerade das Land mutig gegen einen starken Aggressor, wir haben daher allen Grund für eine harte Außenpolitik."

"Eine Zeitenwende hat wirklich stattgefunden"

Insgesamt findet Olexij Haran aber recht positive Worte für Deutschland:

"Uns in der Experten-Community ist klar: In der deutschen Politik gibt es wirklich eine Zeitenwende. Das Einfrieren von Nord Stream 2, die Freigabe von Waffenlieferungen in Konfliktgebiete – für ein derart massives System wie Deutschland ist das wirklich viel. Wir wissen auch, dass es selbst innerhalb der Ampelkoalition unterschiedliche Stimmungen gibt. Und natürlich ist man in der Ukraine nicht immer zufrieden, wenn die Hilfe einige Zeit benötigt, um vor Ort anzukommen. Eine solche Veränderung der Politik hätte man sich aber etwa vor einem Jahr überhaupt nicht vorstellen können."

"Unter den deutschen Politiker*innen gibt es unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die Ukraine, es gibt genug sogenannte Putinversteher. Am wichtigsten ist für uns jedoch, dass die meisten deutschen Parteien für die Fortsetzung der Hilfe für die Ukraine sind", schätzt Wolodymyr Fessenko ein. "Klar hat etwa die SPD einen pazifistischen linken Flügel, der gewisse historisch bedingte Russland-Sympathien pflegt. Aber wir können mit sehr proukrainischen Grünen sowie mit einer verlässlichen Opposition aus der CDU/CSU rechnen."

Die Meinung zu Deutschland ist eng mit dessen Hilfeleistungen verknüpft

Die Unzufriedenheit einiger Ukrainer*innen mit der bisherigen Unterstützung aus Berlin habe aus Fessenkos Sicht auch mit Überschätzung der deutschen Möglichkeit zu tun. Man nehme Deutschland als eine Art USA der EU wahr und könne sich kaum vorstellen, dass zum Beispiel die Möglichkeiten der Bundeswehr auch begrenzt sind.

"Deutschland könnte sicher mehr liefern, doch die Bundeswehr wird hierzulande wirklich stark überschätzt. Insgesamt dürfen wir bei unserer Beurteilung nicht vergessen, dass es auch für Deutschland ein komplizierter Moment ist. Die Energiefrage ist schwierig. Man hat Verständnis dafür, dass der Ukraine geholfen werden muss, aber auch Angst vor einem direkten Konflikt mit Russland sowie Sorgen wegen der tiefen wirtschaftlichen Verbindungen mit Moskau. Dass die Unterstützung trotzdem derart stark ausfällt, ist bezeichnend und gut", meint Fessenko.

„Die Einstellung der Ukrainer*innen zu Deutschland verändert sich mit den Waffenlieferungen. Seit die Panzerhaubitzen und die Gepard-Flugabwehrpanzer angekommen sind, ist sie viel positiver als noch im April", glaubt Ljudmyla Subryzka, Politologin an der Kyjiw-Mohyla-Akademie.

"Eine große Rolle spielt auch die Offenheit Deutschlands gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen. Deutschland gehört zu den gastfreundlichsten Ländern. Natürlich kann es im Alltag zu gewissen Problemen kommen, doch etwa die kostenfreie Bildung ist für ausgereiste Mütter ein sehr wichtiger Aspekt, der die Einstellung gegenüber Deutschland sicher lange prägen wird."

Es gibt aber noch ein Thema, welches die Deutschland-Wahrnehmung der einfachen Ukrainer*innen belastet: Die prorussische Tätigkeit des Altkanzlers Gerhard Schröder, der zur gleichen Partei wie Bundeskanzler Scholz gehört. "Wir Experten wissen, dass er keinen Einfluss hat, doch das Menschen zu erklären ist schwer", sagt Subryzka dazu.

Und der Selenskyj nahestehende Politikwissenschaftler Wolodymyr Fessenko betont: "Schröder hat keinen Einfluss auf die deutsche Regierung und auf die Sozialdemokraten. Wir müssen aber das Phänomen Schröder besser international ausnutzen und immer wieder daran erinnern. Das ist das offensichtliche Beispiel, wie Russland westliche Politiker*innen kauft, wenn auch ehemalige. Wir müssen auf diese systematische Korruptionspolitik Moskaus stärker aufmerksam machen."

 

Denis Trubetskoy ist freier Journalist und lebt in Kyjiw. Von dort berichtet er für deutsche Medien über politische und gesellschaftliche Entwicklungen der Ukraine.

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