Präsident Zelenskiy hat bereits im Wahlkampf die weitreichende Digitalisierung der staatlichen Verwaltung zum Ziel erklärt. Doch wie können kleinere Städte und Kommunen in der Ukraine online-basierte Anwendungen für eine effiziente und bürgernahe Arbeit nutzen? Auf dem Netzwerktreffen „Smart Forum“ vom 25.-26. Oktober in Odessa konnten sich PolitikerInnen und BürgerInnen aus den Regionen Odessa und Slowjansk über die Chancen der digitalen Transformation für eine bürgernahe Politik austauschen. Die Anwendung „smarter“ Dienste, die beispielsweise Behördengänge durch Online-Services ersetzen, wurde vorgestellt.
Zum Schwerpunkt Smart City arbeiten in diesem Jahr unsere Koordinatorinnen Julia Fedorova, Region Odessa und Olga Altunina, Region Slowjansk. Welche Chancen die Digitalisierung für die Stärkung der Demokratie in diesen Regionen bietet und welche Rolle zivilgesellschaftliche Akteure dabei spielen, erklären sie hier im Interview.
1. Erzählen Sie über sich. Welche Rolle spielen die Kiewer Gespräche bei der Umsetzung der Smart-City-Konzepte?
Julia Fedorova: Ich bin Abgeordnete im Stadtrat von Bilhorod-Dnistrovsky und Regionalkoordinatorin der Kiewer Gespräche in der Oblast Odessa. Vor meiner Arbeit im Projekt engagierte ich mich für Instrumente zur Bürgerbeteiligung und E-Demokratie, zunächst auf Seite der Exekutive, später als Abgeordnete. Ich sehe die Rolle der Kiewer Gespräche darin, die Vertreter der Stadtverwaltungen und der Stadtbevölkerung zu unterstützen, eine gemeinsame Sprache zu finden und den demokratischen Wandel zu fördern, das Bewusstsein der Gesellschaft zu schärfen und die Rolle der Gesellschaft in Wandlungsprozessen zu stärken.
2. Was ist Smart City?
Julia Fedorova: Smart City ist eine technologische Transformation von Städten, die Entwicklung und Einführung von intelligenten Lösungen – für eine bessere Lebensqualität in den Städten, für ein effektives Stadtmanagement, für eine effizientere Ressourcennutzung (Finanz-, Eigentums-, Personalressourcen), für die Entfaltung des Wirtschaftspotenzials und die Aufwertung der Städte für ihre Einwohner sowie potenzielle Investoren. Die Entwicklung einer „intelligenten Stadt“ sieht eine Reihe komplexer sozialer sowie technologischer Transformationen vor. Diese werden durchgeführt, indem moderne Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt und lokale gesetzliche Regelungen entwickelt werden. Die Beziehungen zwischen Einwohnern und Stadtverwaltungen sollten dabei eine neue Qualitätsstufe erreichen. Zu den „smarten“ Lösungen für Städte gehören zum Beispiel: elektronischer Dokumentenverkehr, Open Data, Instrumente und Apps der E-Demokratie und Bürgerbeteiligung (Online-Petitionen, Bürgerhaushalt, Online-Beratung, Open City, Bürgerbüro, Open School Budget u.a.), Online-Dienstleistungen und mobile Anwendungen (Informationen für die Einwohner, Bereitstellung von E-Dienstleistungen).
3. Wer nimmt in den von den Kiewer Gesprächen unterstützten Initiativen teil und wie werden die Teilnehmer ausgewählt?
Julia Fedorova: Am Projekt nehmen Teams aus verschiedenen Städten der Region teil, fünf bis sechs Personen aus jeder Stadt, darunter sind Vertreter lokaler Selbstverwaltungsorgane und der Bevölkerung. Bei der Auswahl der Städte wurde zunächst die Bereitschaft der Behörden zur Veränderung berücksichtigt. Mit den Stadtverwaltungen wurden Absichtserklärungen über die Zusammenarbeit an dem Smart-City-Projekt unterzeichnet, in denen sich die Bürgermeister der Städte dazu verpflichteten, Innovationen zu fördern und ihren Mitarbeitern die Teilnahme an den Veranstaltungen zu ermöglichen. Der zweite Faktor ist die Teilnahme von aktiven Vertretern aus der Zivilgesellschaft und engagierter NGO´s. Bei der Auswahl der Teilnehmer war die Motivation entscheidend. So ist es uns beispielsweise gelungen, auf unseren Veranstaltungen Vertreter der Behörden und aus der Bevölkerung, die in der Stadt zuvor keine gemeinsame Sprache gefunden haben, sowie Vertreter verschiedener NGO´s aus einer Stadt zusammenzubringen, um Kontakte zu knüpfen und gemeinsame Projekte zu planen.
4. Was motiviert die Städte, die Smart-City-Konzepte umzusetzen? Wie helfen Politiker dabei?
Julia Fedorova: Die Motivation (wie auch die Nicht-Motivation) der Stadtverwaltung ist in jeder Stadt anders. Der erste Unterstützer unseres Projekts war der Präsident, indem er die Idee eines "Staates im Smartphone" formulierte. Wer also seine politische Karriere für die nächsten fünf Jahre fortsetzen möchte, sollte etwas in diese Richtung tun. Ein weiteres Motiv ist, dass die Kommunalwahlen 2020 die heutigen Entscheidungsträger dazu motiviert, ihre Erfolge zu präsentieren, was mit Hilfe zeitgenössischer Lösungen dies schnell demonstriert werden kann. Leider wirkt sich dies manchmal auch negativ aus, wenn Innovationen nur für „populistische“ Zwecke genutzt werden. Dies niveliert die Bedeutung von Innovationen und verwandelt effektive Werkzeuge in Effekthascherei.
5. Erzählen Sie über sich. Welche Rolle spielen die Kiewer Gespräche bei der Umsetzung der Smart-City-Konzepten?
Olga Altunina: Ich bin ehemalige Vertreterin der Exekutivorgane, Dozentin für Rechtswissenschaft an einer privaten Hochschule, seit 2015 Abgeordnete im Stadtrat von Slowjansk (Oblast Donetsk) und seit 2017 Koordinatorin der Kiewer Gespräche in Slowjansk.
Im Jahr 2017 konzentrierten sich die Kiewer Gespräche auf die Entwicklung der demokratischen Prozesse durch den Dialog zwischen der lokalen Verwaltung und den Einwohnern in den kleinen Städten der Oblast Donetsk. Seit März 2019 realisieren zwei Regionen der Ukraine (Oblast Donetsk und Odessa) meiner Meinung nach das interessanteste Konzept – den Aufbau der demokratischen Prozesse in den Gemeinden durch die Einführung von elektronischen Diensten (Smart City). Die Erfahrung zeigte, dass in den Gemeinden eine enorme Nachfrage in dieser Hinsicht besteht, die Behörden aber die Notwendigkeit dafür komplett übersehen. So standen wir vor einer schwierigen Aufgabe – wir sollten anhand der Erfolge in anderen Gemeinden unsere lokale Verwaltung davon überzeugen, dass die Umsetzung des Konzepts möglich ist und keine großen finanziellen Mittel erfordert, dass es keine Innovation mehr ist, sondern Standard.
6. Was ist Smart City?
Olga Altunina: In Europa bedeutet der Begriff Smart City etwas anderes als in der Ukraine. Smart bezeichnet dort ein Technologiefeld, das Nutzerfreundlichkeit, Wirtschaftlichkeit, ökologische Infrastrukturnutzung, optimale Nutzung des Verkehrs, der Ampeln, der Parkplätze, der Müllabfuhr usw. umfasst. In der Ukraine steht der Begriff für die „smarte“ Zusammenarbeit des Staates mit seinen Bürgern. Zum Beispiel spart die Online-Terminvereinbarung beim Arzt die Zeit des Patienten; eine Online-Bedarfsanmeldung für Schul- oder Kindergartenplätze senkt das Korruptionsrisiko; eine Online-Stadtkarte, auf der die kommunalen Probleme vermerkt sind, motiviert die Gemeindeeinwohner, an der Lösung der drängenden Probleme der Stadt mitzuwirken; mithilfe der Online-Petitionen können sich die Stadteinwohner gemeinsam an die Stadtverwaltung wenden und vieles mehr.
Wir begriffen, dass das Vorhaben uns nicht gelingt, ohne den politischen Willen der lokalen Verwaltung sowie die Unterstützung der regionalen Staatsverwaltung auf Ebene der Oblaste. Ein anderer Weg zum Ziel war möglich – durch die Einbeziehung des zivilgesellschaftlichen Sektors konnten die Amtsinhaber dazu angehalten werden, die Digitalisierung zu fördern. Allerdings ist auf diesem langen Weg mit erheblichem Widerstand zu rechnen. Bei der Umsetzung des Smart-City-Projekts half uns die Politik des neu gewählten Präsidenten der Ukraine, der unseren Weg als Zielrichtung für den gesamten Staat erklärte, sehr.
7. Wer nimmt an den von den Kiewer Gesprächen unterstützten Initiativen teil und wie werden die Teilnehmer ausgewählt?
Olga Altunina: Die Kiewer Gespräche wählten vier Städte in Oblast Donetsk sowie vier Städte in Oblast Odessa, in denen die Stadt- und Regionsverwaltung den politischen Willen zur Umsetzung des Smart-City-Konzepts zeigte. Aus jeder Stadt wurden Teams gewählt, mit jeweils vier Vertretern aus der Bevölkerung sowie vier Vertretern aus der Verwaltung, um in dieser Synergie das Vorhaben umzusetzen. Die Aufgabe der Kiewer Gespräche bestand darin, die Verwaltung und die Stadtgesellschaft zusammenzubringen.
Als erstes wurde dank der Kleinprojektförderung für die Gemeinde Druzhkivka (Oblast Donetsk) die App „Easy Way“ eingeführt, die ein sicheres und bequemes Nutzen des öffentlichen Nahverkehrs ermöglicht. Dank der Förderung wurden 20 GPS-Tracker an die Stadtbusse angebracht und mit dem System „Easy Way“ verknüpft. Jeder Einwohner kann jetzt durch die App das benötigte Transportmittel verfolgen (zum Beispiel behindertengerechte Busse) und die Ankunft an einer bestimmten Haltestelle genau ermitteln. Ein großer Erfolg war die Zustimmung der Stadtverwaltung, Finanzmittel im gleichen Umfang zur Förderung aus dem Haushalt zu gewähren, um die Tracker auch an den restlichen öffentlichen Verkehrsmitteln anzubringen.
Vier Städte der Oblast Donetsk finanzieren Entwicklungen in Richtung „smart“ durch Zuwendungen von USAID und UNDP. Die Projektteams unterstützen diesen Prozess. Wir entschieden, nicht nur existierende Dienstleistungen einzuführen, sondern auch neue zu entwickeln, indem wir die Nachfragen aus der Bevölkerung analysierten. Am 11. Oktober nahm das Donetsk-Team an einem Tech-Hackathon teil und gewann dort. Das Team präsentierte eine App, welche die Stadtbewohner thematisch gegliedert über Ereignisse und Vorfälle informiert. Zum Beispiel über Notfallsituationen, Wasser- oder Stromausfall oder Neuigkeiten aus den Bereichen Wohn- und Kommunalwirtschaft, Bildung, Straßenverkehr. Die Verwaltung wird den Nutzern auf diesem Wege nicht nur themen-, sondern auch ortsbezogene Nachrichten senden. Die App bietet neben dem Benachrichtigungssystem auch eine Option für Rückmeldungen. Wir möchten mehrspurige Kommunikationswege bauen, damit die Verwaltung und die Einwohner gut miteinander kommunizieren können. UNDP stimmte zu, das Hackathon-Gewinnerprojekt zu finanzieren, daher erhalten alle Zielstädte der Kiewer Gespräche das hochmoderne Kommunikationsinstrument kostenlos.
8. Was motiviert die Städte, die Smart-City-Konzepte umzusetzen? Wie helfen Politiker dabei?
Olga Altunina: Kommunalpolitiker betrachten die Vor- und Nachteile von Smart City sehr vorsichtig, denn für die Umsetzung müssen alle Prozesse offen gelegt werden, die Jahrzehnte für die Öffentlichkeit unzugänglich waren. Zum Beispiel wird mit der Einführung des Open-Budget-Portals der gesamte Stadthaushalt (Einnahmen und Ausgaben) einsehbar. Diese Plattform wurde vor einigen Jahren auf der staatlichen Ebene mit der Unterstützung des Finanzministeriums eingeführt, aber die lokalen Machthaber versteckten zuverlässig bestimmte Informationen auf den städtischen Online-Portalen oder ließen systematisch Information aus. Warum? Weil es nicht ihr Ziel ist transparent zu sein, da es einfacher ist, auf jede Bitte der Bevölkerung - etwas darum einen Kindergarten zu renovieren oder eine Straße zu reparieren - zu antworten, dass das Geld fehle, als zu rechtfertigen, warum sie denselben Straßenabschnitt zum dritten Mal reparieren.
Die treibende Kraft für die Veränderungen kommt in der Regel aus dem zivilgesellschaftlichen Sektor oder von den neuen Politikern, die zum ersten mal in den Stadtrat gewählt worden sind. Für mich ist die Einführung des „smarten“ Systems äußerst wichtig, denn die Distanz zwischen der Gesellschaft und der Regierung führte im Jahr 2014 zu schreckliche Folgen, als die Bevölkerung in einem anderen Land leben wollte, in dem die Regierung einen besseren Schutz und mehr Sicherheit zu bieten schien. Im Bereich „Smart“ ist es die Hauptaufgabe der Kiewer Gespräche, den Menschen mit einfachen Worten komplexe Dienstleistungen und ihre Vorteile zu erklären. Wir finden, dass das Thema mutig und innovativ ist, sowohl für den Donbas, als auch für die Region Odessa, und wir haben gute Chancen, diese Idee umzusetzen. Wir wollen die Welt nicht nur auf Glanz polieren, wir wollen sie verändern.