Am 20. November dieses Jahres ordnete der Bundestag den Holodomor als Völkermord ein. Nicht nur ein Meilenstein in den deutsch-ukrainischen Beziehungen, sondern auch das politische Versprechen zur Selbstreflexion im Umgang mit den historischen Erfahrungen der östlichen Nachbarn. Die Ukraine ist auf der mental map Deutschlands erschienen.
Von Sebastian Christ
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat einen geschichtlichen Aspekt, der bisher viel zu selten berücksichtigt wurde. Es ist der historische Moment jener, die agil handeln können. Die schnelle Anpassung an eine sich ständig ändernde Gegenwart gehört einerseits zum militärischen Erfolgsrezept der ukrainischen Armee im Kampf gegen die russischen Invasoren. Das hat sie der russischen Armee voraus, die strukturell in der autoritär geprägten Befehlsstrategie der Sowjetarmee hängen geblieben ist. Andererseits hat die rasche Erfassung der neuen politischen Weltlage auch dazu geführt, dass viele Staaten auf der ganzen Welt die historisch gewachsenen Vorstellungen von ihren Beziehungen mit Russland revidiert und der Ukraine militärische Hilfe im Abwehrkampf gegen einen völkerrechtswidrigen Überfall auf ihr Territorium zugesagt haben.
Zeitenwende als Antwort auf Imperialismus
Wenn wir über eine weltpolitische „Zeitenwende“ reden, ist Agilität die wichtigste Tugend, um dem plötzlichen Wandel zu begegnen. Nur wer sein Handeln möglichst zeitnah an die sich schnell ändernden Rahmenbedingungen anpassen kann, bleibt für die Zukunft handlungsfähig. Die baltischen Staaten oder Polen erkannten sehr früh, welche Gefahr sich durch den Truppenaufmarsch Russlands entlang der Grenze zur Ukraine abzeichnet. Sie handelten schnell, situationsbezogen, pragmatisch. Und sie sind bis heute federführend, wenn es um die Gestaltung einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik geht. Ihr politischer Einfluss ist seitdem über die eigene Größe hinausgewachsen. Diese Agilität ist das unideologische Gegenstück zu einem auf militärischer Machtdemonstration basierenden Imperialismus. Und deswegen kann man die Menschen in solchen Ländern auch nicht so einfach mit Atomwaffen drohen. Sie verstehen nämlich die Zeit und die Welt, in der sie leben.
Deutschland dagegen wirkt aus der Ferne betrachtet eher wie ein schlafender Riese, der langsam in einer neuen Welt erwacht. Sehr behäbig wirken die Bewegungen des Giganten, manchmal wirkt er trotz seiner Größe fast zögerlich und ängstlich. Womöglich haben Riesen allgemein ein Problem mit Agilität. Aber mittlerweile scheint die neue Welt in Deutschland eine Gestalt zu bekommen.
Die Anerkennung des Holodomors als Völkermord ist Ausdruck eines tieferen Wandels
Ein wichtiger Meilenstein war die Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 29. November 2022, den Holodomor als Völkermord anzuerkennen. Man könnte versucht sein, diesen Beschluss als Symbolpolitik abzutun. Schließlich, so könnte man argumentieren, würde es den Abgeordneten des Bundestages nichts kosten, einer auf Identitätsbildung basierten Geschichtspolitik Rechnung zu tragen, die von der Ukraine seit der Ära Juschtschenko verfolgt wird. Tatsächlich jedoch markiert der Beschluss eine kulturelle Form von „Zeitenwende“: Der Bundestag hat mit dieser Entscheidung einen Wandel im Umgang mit Osteuropa politisch definiert, den es gesellschaftlich bereits seit dem 24. Februar 2022 gibt. Aus den Ländern, die zwischen der deutschen Ost- und der russischen Westgrenze liegen – und vor allem aus den Menschen, die dort leben – sind Akteure geworden. Das war aus Sicht vieler Deutscher lange Zeit nicht der Fall.
In dem Antrag, den die Fraktionen der Union, der SPD, der Grünen und der FDP gemeinsam zur Abstimmung gestellt haben, wird explizit die „politische Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins“ als Ziel des Mordens durch Hunger benannt. „Das ‚Ukrainische‘ war Stalin zutiefst suspekt, galt ihm als widerständig und unbedingt unterzuordnen“, heißt es in dem Text. Es zeige sich, dass „im Falle des politischen Verbrechens des Holodomors“ das Streben der sowjetischen Führung nach Kontrolle und Unterdrückung der Bäuerinnen und Bauern sowie der ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur miteinander verschmolzen seien.
Eine verspätete Geschichtsbewältigung
Damit erkennt der Bundestag nicht nur den Holodomor als Völkermord, sondern auch den imperialen Charakter der sowjetischen Politik an. Man muss sich das vergegenwärtigen: Bis in die jüngste Vergangenheit wurden in Deutschland die Begriffe „Russland“ und „Sowjetunion“ synonym zueinander benutzt. Ganz so, als sei uns das imperiale Denken über die „Russki Mir“ selbst in Fleisch und Blut übergegangen. Passend dazu passierte vielen Bundesbürgern der Freudsche Versprecher, dass im Zweiten Weltkrieg angeblich „27 Millionen Russen“ getötet wurden. Besonders häufig geschah das dann, wenn die historische Bedeutung der deutsch-russischen Beziehungen betont werden sollten. Der mittlerweile in den Ruhestand getretene Kabarettist Volker Pispers wiederholte diese Pointe beispielsweise bei zahlreichen Bühnenauftritten.
Die baltischen Staaten, Belarus und die Ukraine waren für viele Deutsche im intellektuellen Sinn „Flyover-Countries“. Sie existierten nicht auf der emotionalen Landkarte der Bundesrepublik, sie hatten keine Gestalt und keine definierte Rolle. Und wenn von ihnen doch die Rede war, dann allenfalls in Bezug auf Russland. Politiker, die sich gerne selbst als „Realisten“ sahen, sprachen gerne davon, dass die Ukraine der „Vorhof“ von Russland sei, und dass dieses Land zur „Interessenssphäre“ von Putin gehöre.
Allein aus dieser Wortwahl wird deutlich, dass die deutsche „Geschichtsbewältigung“ in vielen Bereichen kläglich versagt hat. Das Wort „Interessenssphäre“ wäre ein Unwort in Bezug auf die politische Beschreibung Osteuropas, wenn sich die Deutschen darüber klar wären, dass bereits Hitler und Stalin diese Weltregion in „Interessenssphären“ eingeteilt und damit unermessliches Leid über Millionen von Menschen gebracht haben. Wer in dieser Weise denkt, spricht ganzen Völkern die Fähigkeit ab, über die eigene Zukunft selbst zu bestimmen. Die Welt wird zu einem Schachspiel, in dem die Ukrainer oder die Belarusen zu Figuren degradiert werden, welche von den großen Mächten vorwärts und rückwärts bewegt werden können.
Imperiale Denkmuster verhindern eine realistische Einschätzung des Kriegs
Dieser imperiale Blick auf Osteuropa existiert in vielen verschiedenen bundesdeutschen Variationen. Und er tritt bis heute immer wieder ans Tageslicht. Im April etwa wurde in der Berliner Zeitung ein offener Brief veröffentlicht, in dem der ukrainischen Armee nahegelegt wurde, sich zu ergeben. Auf lange Sicht sei die ukrainische Armee dem russischen Militär unterlegen – durch ein schnelles Ende des Krieges könne sinnloses Blutvergießen verhindert werden. Viele der Unterzeichner (unter anderem Konstantin Wecker, Luc Jochimsen und Antje Vollmer) würden sich selbst wohl eher als „Linksintellektuelle“ definieren. Und doch reproduzierten sie imperiale Denkmuster: Der vermeintlich unterlegene Staat habe sich aus Eigeninteresse in sein Schicksal zu fügen und die Waffen zu strecken. Ganz so, als gäbe es kein Völkerrecht.
Dieser Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine entlarvte zwei ganz grundsätzliche Denkfehler. Erstens haben die Unterzeichner den agilen Charakter dieses Krieges nicht verstanden: Es ist nicht entscheidend, ob eine Kriegspartei über das kleinere Waffenarsenal verfügt. Viel wichtiger ist, was sie aus dem eigenen Potenzial macht. Die Politologen Henry Hale und Olga Onuch beschreiben in ihrem neuen Buch „The Zelensky Effect“ die erfindungsreiche ukrainische Zivilgesellschaft als einen Kernfaktor für die Widerstandskraft gegen die russische Invasion. Der ukrainische Philosoph Wolodymyr Jermolenko betont den antiautoritären Organisationscharakter der ukrainischen Gesellschaft und die Kraft, die aus Inspirationen und gemeinschaftlicher Solidarität entsteht. Beides sieht kann man freilich nicht erkennen, wenn man die Ukraine unter imperialen Gesichtspunkten betrachtet und ihr allenfalls den Charakter eines „unterentwickelten Vorhofes“ der Russischen Föderation zugestehen will.
Zweitens zeugen solche Aussagen davon, dass manche Deutsche die falschen Schlüsse aus der Vergangenheit gezogen haben. Das gilt besonders für die Anhänger der deutschen Friedensbewegung. Aus dem „Nie wieder!“ ist mit der Zeit ein „Nie wieder Krieg!“ geworden. Dahinter steckt die Idee, dass nicht die Wiederkehr des Faschismus die schlimmste aller denkbaren Zukünfte wäre, sondern das Führen von militärischen Auseinandersetzungen jedweder Art. Selbst dann, wenn ein moderner Faschismus mit dem Kanonenrohr an die Tür klopft – und sich ein ganzes Volk gegen Massenmord und Folter wehren muss.
Die Selbstbezogenheit der deutschen Debatte
Dieses deutsche Denken über Krieg hat historische Ursachen. Welche das sind, kann man ahnen, wenn man etwas genauer hinhört. Jakob Augstein etwa konfrontierte die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk in einem Radio-Eins-Gespräch mit der Zerstörung seiner Heimatstadt Hamburg im Zweiten Weltkrieg, als er ihr seine Angst vor einem neuen Krieg näher erläutern wollte. Der Soziologe Harald Welzer meinte den damaligen ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk in der Talkshow von Anne Will darauf hinweisen zu müssen, dass dieser über die kriegskritischen Positionen vieler Deutscher nicht so einfach urteilen dürfe – diese Menschen sprächen schließlich „als Mitglieder einer Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Kriegserfahrung, die sich durch die Generationen durchgezogen“ habe. Die Deutschen als Opfer einer vererbten Gewalterfahrung: Darin kann man auch eine immense Selbstbezogenheit erkennen. Vor allem, wenn es um einen Krieg geht, den die Deutschen einst selbst begonnen hatten und der immenses Leid über Europa gebracht hat.
Es ist genau diese Selbstbezogenheit, die Deutschland bisweilen so träge wirken lässt. Gleichzeitig ist sie aber auch Überrest einer einst dominanten imperialen Denkungsart. Länder wie die Ukraine wurden lange Zeit nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe akzeptiert, die dortigen Probleme verdrängt. Als gleichwertige Gesprächspartner wurden häufig nur andere (Ex-)Imperialmächte wahrgenommen – wie zum Beispiel Russland. Die jahrzehntelange Fixierung auf Moskau, wenn es um den Diskurs über Osteuropapolitik geht, lässt sich dadurch erklären. Deswegen hatte Deutschland zu Beginn dieses Krieges einen viel weiteren Weg zurückzulegen, um in der Realität des Jahres 2022 anzukommen.
Die Ukraine erscheint auf der emotionalen Landkarte Deutschlands
Die aus der Ferne betrachtete Trägheit ist bei näherem Hinschauen deswegen auch ein viel dynamischerer Prozess. Deutschland durchlebt eine Phase der politischen Disruption, mit all den damit verbundenen Konflikten. Was über mehrere Generationen als friedens- oder sicherheitspolitisch richtig galt, steht nun vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse infrage. Solche Prozesse laufen selten flüssig und störungsfrei. Und natürlich ist die Angst vor dem Neuen und Unbekannten echt. Das hatte übrigens auch Russland sehr früh erkannt und versuchte, mit gezielt auf den deutschen Diskurs abgestimmten Signalen die politische Neufindung zu stören.
Außerdem haben viele Deutsche seit dem 24. Februar über die tägliche Berichterstattung, aber auch durch persönliche Begegnungen mit Geflüchteten, einen Begriff davon bekommen, was die Ukraine ist und was sie ausmacht. Langsam bekommt das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas einen Platz auf der emotionalen Landkarte.
Umso wichtiger ist es, dass sich der Bundestag gerade jetzt zum Holodomor positioniert hat. In dem Beschluss bekennen sich die Abgeordneten dazu, „jeglichen Versuchen, einseitige russische historische Narrative zu lancieren, weiterhin entschieden entgegen zu wirken“ und eine „selbstreflektierende und achtsame Perspektive auf unsere östliche Nachbarschaft und deren wechselvolle und komplexe Geschichte zu fördern“.
Selbstbezogenheit durch Selbstreflexion zu ersetzen: Das hat Potenzial für die Zukunft.
Sebastian Christ ist Journalist und Autor. Er schrieb unter anderem für den Tagesspiegel, das Handelsblatt, den Stern und berichtete aus der Ukraine und dem Irak. Sebastian Christ lebt in Berlin.