„Ich bat Gott darum, schnell sterben zu dürfen“. Bericht einer Siebzehnjährigen aus Mariupol

Von Olesja Bida, übersetzt aus dem Ukrainischen von Dario Planert

Ein blondes Mädchen mit einem Kranz aus rotem Mohn. Sie trägt eine ukrainische Tracht und in den Händen hält sie eine Bandura. So zeigen viele vor dem Krieg entstandene Fotos die siebzehnjährige Maria Wdowytschenko. Bis vor Kurzem lebte sie mit ihren Eltern in Mariupol, war Schulsprecherin und nahm Unterricht auf dem ukrainischen Zupfinstrument Bandura. Gemeinsam mit ihren Eltern ging sie regelmäßig in die Kirche.

Am 24. Februar war dieses Leben vorbei. Die Stadt geriet unter Beschuss, das Haus, indem sie gelebt hatten, verwandelte sich in eine Ruine und zu essen blieb ihnen lediglich ein Viertel eines Brotlaibs, kaum größer als eine Faust. Marias Familie hat es aus Mariupol herausgeschafft. Auf ihrer Flucht erlebten sie Besatzung und Filtrationslager.

Hromadske hat Maria die Geschichte ihrer Familie in einem Atemzug geschildert. Der folgende Text sind ihre eigenen Worte.


Maria Wdowytschenko in Mariupol. Foto: privat

„Es ist Krieg. Wir müssen los!“

Am 24. Februar um 3:50 Uhr spürte Mama den ersten Einschlag. Sie kam in das Zimmer gerannt, das ich mir mit meiner jüngeren Schwester teilte, und sprach mit lauter Stimme die denkbar schlimmsten Worte aus: „Es ist Krieg. Wir müssen los!“. Aber wohin? Und wie? Hastig warfen wir warme Kleidung und die übriggebliebenen Lebensmittel in eine Tasche. Wir dachten, dass wir es noch aus der Stadt schaffen würden. Doch sie war bereits abgeriegelt.

Hier begann der Horror. Die Menschen rannten aus ihren Wohnhäusern und versuchten alles aufzukaufen, was sie in die Hände bekamen, Bargeld abzuheben und ihre Autos vollzutanken. Um sie herum donnerten die Explosionen.

Um 12 Uhr mittags erzitterte das Gebäude, in dem wir lebten. In welchen Keller sollten wir flüchten? Ich wählte die Nummer des Chefs der Wohnungsgenossenschaft. Man antwortete mir, dass unser Keller dafür nicht ausgelegt sei, da er Fenster habe und renoviert werde. Dort könne man sich nicht verstecken.

Zu diesem Zeitpunkt verfügten wir noch über die notwendigen Kommunikationsmittel. Unsere Vorräte an Essen und Wasser waren entsprechend klein, doch gingen wir davon aus, dass sie noch mindestens drei bis vier Tage halten würden.

„Was nützt ein Badezimmer in einer gewöhnlichen Chruschtschowka?“

Zwei Tage nach Beginn des Krieges fielen Strom, Wasser und das Mobilfunknetz aus. Kurz darauf gab es kein Gas mehr. Die Lage wurde zunehmend schwieriger.

Währenddessen stand Mariupol unter ständigem Beschuss. Der linksufrige Stadtteil war zerstört und über den Prymorskyj-Bezirk rollten Explosionswellen hinweg. Überall wummerte es.

In der Wohnung hängten wir Schaumstoff zwischen die Fensterscheiben. Wir dachten, das würde uns schützen.

Wir versteckten uns im Bad. Es gab Tage, an denen wir wussten, um welche Uhrzeit man uns beschießen würde. Sobald wir Lärm vernahmen, ein Rauschen oder ein Knallen, rannten wir sofort ins Badezimmer. Das wurde rasch mühselig. Die Hoffnung, dass diese Situation irgendwann enden, dass uns jemand hier rausholen würde, löste sich langsam in Luft auf. Was nützt schon ein Badezimmer in einer gewöhnlichen Chruschtschowka?

Eines Morgens, ich erinnere mich nicht mehr an das genaue Datum, lagen wir alle in einem Zimmer. Wir vernahmen geschäftiges Treiben in der Wohnung und die Geräusche umfallender Gegenstände in einem benachbarten Zimmer.

Aber wir wollten nicht daran glauben, redeten uns ein, es sei weit von uns entfernt.

Plötzlich begann die Erde zu vibrieren. Es war, als würde das ganze Gebäude einen Satz nach oben machen. Wir stürzten zur Wanne. Es herrschte eine sonderbare Stille. Irgendetwas schien auf uns herabzustürzen. Im nächsten Moment traf uns eine Explosionswelle, die das Haus von oben bis unten durchschüttelte. Die oberen Etagen des Gebäudes wurden einfach weggerissen. Es regnete Betonreste, Möbel, Dachziegel und Glas. Überall Schreie.

Maria Wdowytschenko spielt Bandura. Vor dem großen Angriff 2022. Foto: privat

„Die Menschen waren bereit, einander für einen Schluck Wasser umzubringen“

Es gelang uns aus dem Gebäude herauszukommen. Mein Vater trieb uns zum nächstbesten Kellereingang.

Wir rannten durch den Lärm, das Eis, Glas und den Kugelhagel. Unsere Gedanken kreisten nur ums eines: Hauptsache irgendwo unterkommen, damit uns nicht das herabstürzende Gebäude erschlägt.

Meine Schwester erreichte den Keller als erste, meine Eltern und ich hinterdrein. Unsere Ankunft war geräuschvoll und wir bemerkten, dass um uns herum Menschen miteinander flüsterten.

Schließlich öffnete ein Mann die Türen und sagte, dass er uns nicht hereinlassen könne. Angeblich seien schon zu viele Menschen im Keller. Man habe keinen Platz zu verschenken. Mein Vater hörte ihm gar nicht erst zu. Er stieß in zur Seite und wir gingen hinein.

In dem Raum hatten zwanzig unserer Nachbarn Unterschlupf gesucht. Mit uns zusammen war noch eine weitere Familie mit einem fünf Monate alten Kind angekommen. Hätten wir uns nicht mit Zwang Zugang verschafft, wäre unter unserem Wohnhaus noch eine weitere Familie begraben worden.

Im Keller wurden wir Zeugen verschiedener Schrecklichkeiten. Als die Nahrungsmittel der Leute zur Neige gingen, verwandelten sie sich in Bestien. Sie waren bereit einander für einen Schluck Wasser umzubringen.

Es gab nichts zu Essen. Wasser gewannen wir, indem wir Schnee und Eis schmolzen.

Da es kein Trinkwasser mehr gab, mussten die Einwohner*Innen von Mariupol Schnee- und Regenwasser trinken. Foto: Evgeny Sosnovsky

Auf die Straße zu treten, hieß, sich einer unglaublichen Gefahr auszusetzen. Schrapnelle, Steine und Gebäudereste flogen durch die Luft.

Eines Tages landete vor unserem Kellereingang eine Mine. Sie verursachte ein Loch, das so groß war, als hätte es ein Bagger ausgehoben. Wir hatten Angst, dass uns das Gebäude begraben, dieser Keller zu einem Massengrab würde.

„In diesem Keller waren wir allein mit unseren Hoffnungen und Gebeten“

Meine Mutter leidet bereits sechs Jahre an einer Polyneuropathie. Das ist eine Erkrankung des Nervensystems. Auf dem Höhepunkt des Stresses konnte sie nicht mehr laufen. Zweimal blieb ihr Herz stehen. Die Apotheken waren außer Betrieb und Medikamente hatten wir keine. Die Notaufnahme, die auf der anderen Straßenseite lag, war zerstört worden.

Mein Vater übernahm die Reanimation so gut er konnte mithilfe künstlicher Beatmung und Herzdruckmassage. Für die Suche nach Arzneien mussten wir uns den Feuergefechten aussetzen. Wir durften Mama nicht verlieren. In diesem Keller waren wir allein mit unseren Hoffnungen und Gebeten.

Am zehnten Tag unseres Kellerdaseins war uns noch ein Stück Brot geblieben. Es war so groß wie meine Faust. Wir teilten es in vier Stücke. Mein Stück konnte ich nicht essen. Wir hatten so lange gehungert. Es war so lange bei mir gewesen. Die Vorstellung, dass am Ende nicht einmal mehr dieses Stück Brot da sein würde, jagte mir Angst ein.

Die Menschen stritten untereinander und versuchten Einzelne Personen aus dem Keller zu jagen, um Nahrungsvorräte zu sparen. Jegliche menschliche Güte war an diesem Ort verschwunden. Es gab nur noch Dunkelheit und schon bald vernahmen wir den Geruch des Todes.

So ging es zwölf Tage.

„Wir kommen hier nicht mehr raus. Das hier ist mein Grab“

Üblicherweise begannen die Gefechte gegen vier Uhr morgens. Nach einer kurzen Feuerpause wurden sie ab zehn Uhr wiederaufgenommen. Aber an jenem Tag wurden gegen zwei Uhr nachts alle von einem zuvor noch nicht vernommenen Lärm geweckt. Wir versuchten wieder einzuschlafen, doch die Tasse, die auf dem Regal über mir stand, begann zu hüpfen. Es war so laut, als würden gleichzeitig vier Züge an jeder Seite an mir vorbeifahren.

Wenn die Schießereien losgingen, weinte normalerweise ein Kind oder jemand sprach ein Gebet. Dieses Mal schwiegen alle.

Plötzlich begann die Erde zu beben, es war, als würde alles über uns zusammenstürzen. Von den Wänden bröckelte der Putz auf uns herab.

Ich lag dort und glaubte nicht mehr daran, dass wir hier lebend rauskämen. Das hier würde mein Grab sein. Ich hatte die Hoffnung schon verloren, konnte nicht mehr beten, nicht mehr glauben.

Es wird aufhören, es wird nicht lange dauern. Der Mensch leidet doch nicht grundlos, - wiederholte ich für mich selbst.

In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich sterben würde, und zwar zusammen mit meiner Familie, die neben mir auf demselben Teppich lag.

Schließlich entschied ich mich doch zu beten. Ich bat Gott, schnell sterben zu dürfen und meine Familie nicht sterben sehen zu müssen, nicht sehen zu müssen, wie sie leiden, ohne ihnen helfen zu können.

Wir hatten nichts mehr. Keine Kraft, keine Hoffnung, nicht mal mehr einen funktionierenden Sanitätskasten. Allen war klar, dass wir hier nicht mehr herauskämen, sollten sie einen Treffer landen. So wie im Nachbarhaus, aus dem ebenfalls niemand gerettet wurde. Das hatten die feindlichen Soldaten verboten. Es war schlicht unmöglich.

Zurück

Partner

Förderer

Logo european-exchange.org