Der Monitor Luftkrieg Ukraine liefert Analysen zum russischen Luftkrieg gegen die Ukraine. In der achten Ausgabe liegt der Fokus auf jüngsten Entwicklungen des Drohnenkriegs, russischen Produktionskapazitäten und warum diese eine neue Verteidigungsstrategie Europas erforden.
Der Monitor Luftkrieg Ukraine wird von den Kyjiwer Gesprächen in Zusammenarbeit mit dem OSINT- und Datenanalyst Marcus Welsch und der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegeben.
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► Zusammenfassung
► Lage im August - Analyse und Trends
► Hintergrund - Russische Produktionskapazitäten
► Empfehlungen
► Über den Monitor
► Methode
► Download
Die russischen Streitkräfte setzen bei ihren Luftangriffen gegen zivile Einrichtungen, Infrastruktur und Städte in der Ukraine seit dem Spätsommer 2024 verstärkt auf den Einsatz von Langstrecken-Drohnen. (vgl. ↗ Monitor Vol VII)
Anlässlich des Alaska-Treffens zwischen Wladimir Putin und Donald Trump am 15. August drosselte Russland die Angriffe auf ukrainische Städte ab dem 1. August auf durchschnittlich 90 Drohnenangriffe pro Nacht.
Weniger als eine Woche nach dem Gipfeltreffen kehrte Russland ab dem 21. August zu massiven Angriffswellen mit 614 (21.8.), 629 (28.8.) und 582 (30.8.) eingesetzten Flugkörpern pro Nacht zurück. Die Intensität der Drohnenangriffe stieg auf das Durchschnittsniveau vom Juli mit mehr als 200 täglichen Angriffen.
Im August wurden mindestens 4.207 Drohnen gegen zivile Ziele in der Ukraine eingesetzt. Das entspricht 33 % weniger als im Vormonat. Russland setzte zudem 156 Marschflugkörper und ballistische Raketen ein. Insgesamt waren es somit 4.363 Angriffe.
Dabei führt die russische Armee das bekannte Angriffsmuster fort: Sie setzt auf einzelne, massive Angriffe mit über 500 Drohnen pro Nacht und greift in den übrigen Nächten mit mindestens 50 bis 100 Drohnen an, um den Druck auf die Zivilbevölkerung aufrecht zu erhalten.
Raketen und Marschflugkörper folgen meist auf Angriffe mit großen Drohnenschwärmen, seit Juni an etwa 18 Tagen im Monat. Die Zusammensetzung der eingesetzten Waffentypen unterscheidet sich nur geringfügig von den Vormonaten: Etwa ein Drittel sind ballistische Raketen mit Hyperschallgeschwindigkeit und zwei Drittel Marschflugkörper.
Entwicklung der Abschussraten
Die Abschussraten bei Raketen und Marschflugkörpern sind im August tendenziell gestiegen. Die relativ hohe Erfolgsrate (etwa 88 % bei Marschflugkörpern, 44 % bei ballistischen Raketen) zeigt, dass es Russland derzeit nicht gelingt, die ukrainische Flugabwehr mit dem massiven Flugkörper-Einsatz zu überfordern und die westlichen Lieferungen von Abfangraketen (interceptors) Wirkung zeigen. Um so wichtiger ist es, dass die Ukraine in der Lage ist, vorausschauend ausreichende Vorräte an Abfangraketen anzulegen.
Die Abfangrate bei Drohnen ist im August wieder gesunken: auf 84 % gegenüber 89 % im Juli. Besonders auffällig ist, dass große Angriffe meist besser abgewehrt werden (94 %) als kleinere Angriffswellen, bei denen die Abfangrate oft nur 50–80 % beträgt. Das zeigt, dass die Drohnenabwehr je nach Ziel unterschiedlich effektiv ist und manche Regionen schlechter geschützt sind als andere.
Drohnen größtes Bedrohungspotenzial
Im August wurden 684 Drohnen und 49 Raketen bzw. Marschflugkörper nicht abgefangen. Im Verhältnis zu der transportierten Sprengladung der einzelnen Flugkörpertypen, zeigt sich: Von Drohnen geht derzeit das größte Bedrohungs- und Zerstörungspotenzial aus. Im August kamen durch ballistische Raketen 13 Tonnen Nutzlast ins Ziel, durch Marschflugkörper sechs Tonnen und durch Drohnen ca. 34 Tonnen.
Dies ist ein neues Phänomen. Bis Mai 2025 hatten Drohnen weniger Sprengstoff auf zivile Ziele gesteuert als Marschflugkörper und Raketen und waren damit weniger effektiv als die Flugkörper aus den Restbeständen Russlands, die zum Teil noch aus Sowjetzeiten stammen (vgl. ↗ Monitor Vol VI). Nun ist die Gefahr gestiegen durch die hohe Zahl an eingesetzten Drohnen und die sinkenden Abfangquoten.
Belastung Frontnaher Regionen
Zur Belastung für die Zivilbevölkerung durch Drohnenangriffe kommt in den frontnahen Städten die Gefahr durch Gleitbomben. Das betrifft vor allem Städte im nicht besetzten Teil des Donbas sowie im Oblast Sumy. In Kramatorsk zum Beispiel waren von den zunehmenden Angriffen mit Gleitbomben im August zu 90 % zivile Gegenden betroffen. Auch die Situation in Kostjantyniwka spitzt sich immer weiter zu, dort setzt Russland ebenfalls auf massiven Beschuss und Gleitbomben. (↗ ISW, 29.8.25)
Die Millionenstadt Charkiw, die ununterbrochen Ziel des russischen Luftkriegs ist (vgl. ↗ Monitor Vol VII), liegt ebenfalls in Reichweite der Gleitbomben.
Die Auswertung der Schadensberichte in den Tagesanalysen des ISW zeigt, welche Regionen besonders von den Angriffen betroffen sind. Im August lag Charkiw erneut vor Dnipro, Sumy und Tschernihiw. Ebenfalls stark betroffen waren die Städte im nicht besetzten Teil des Oblast Donezk, gefolgt von Saporischschja, Cherson, Odesa und Kyjiw. Tschernihiw wurde im August intensiver angegriffen als in den Monaten zuvor. Poltawa, Kyjiw, Kirowohrad, Tscherkasy und Mykolajiw wurden im August dagegen in weniger Nächten angegriffen als in den Vormonaten. Einen Überblick darüber, wie stark einzelne Oblaste seit Januar 2025 angegriffen wurden, bietet die voherige Ausgabe. (vgl. ↗ Monitor Vol VI)
Russlands Ziele im Luftkrieg
Im August zeichnete sich ab, dass der Kreml die ukrainische Energieinfrastruktur wieder verstärkt mit Drohnen und Raketen angreift. Russland wird vermutlich versuchen, im Herbst und Winter die Strom- und Wärme-produktion in der Ukraine massiv zu stören.
In den Regionen Poltawa, Sumy und Tschernihiw kam es Ende August zu Stromausfällen, von denen etwa 100.000 Haushalte betroffen waren. Das größte private Energieunternehmen der Ukraine (DTEK) berichtete am 27. August, die Kohleanreicherungsanlage im Oblast Donezk, in der Kohle zum Heizen aufbereitet wird, sei zerstört worden.
Darüber hinaus begann Russland, Verkehrsinfrastruktur anzugreifen, wie am 28. August im Oblast Winnyzja. Der ukrainische Eisenbahnbetreiber Ukrsalisnyzja berichtete, Russland habe Waggons des Hochgeschwindigkeitszuges Intercity+ und einen Eisenbahnknotenpunkt in Kosjatyn angegriffen und dadurch einen massiven Stromausfall ausgelöst, der den Eisenbahnverkehr in der gesamten Ukraine beeinträchtigt habe. (↗ ISW, 28.8.25)
Russland wird auch weiterhin versuchen, ukrainische Rüstungsstandorte und kritische Infrastruktur zu zerstören. Da die meisten Ziele ziviler Infrastruktur laut dem ukrainischen Militärgeheimdienst HUR in Städten liegen, ist eine steigende Zahl ziviler Opfer zu befürchten. Viele Flugkörper, die die russische Armee für ihre Angriffe verwendet, sind nicht sehr präzise und erhöhen das Risiko für die Zivilbevölkerung zusätzlich. (↗ Suspilne, 12.8.25)
Im vergangenen Winter ist es der russischen Militärführung weder gelungen, die Energieversorgung und Industrieproduktion in der Ukraine zum Erliegen zu bringen, noch den Willen der Bevölkerung zum Widerstand gegen die russische Aggression zu brechen. (vgl. ↗ Monitor Vol VI)
Bereits jetzt greift Russland Wohnviertel, Krankenhäuser und andere zivile Ziele auf besonders perfide Weise mit Doppelschlägen (sog. double tap) an: Einem ersten Angriff folgt kurze Zeit später ein zweiter, der Feuerwehr, Rettungskräfte und Angehörige treffen soll. (vgl. ↗ Monitor Vol VI)
Die Großangriffe auf Kyjiw in der Nacht zum 28. August, denen mehr als 20 Menschen zum Opfer fielen, trafen auch diplomatische Einrichtungen der Europäischen Union und des britischen Kulturinstituts. Diese Machtdemonstration des Kremls sollte vermutlich die politische Haltung in Europa beeinflussen, denn sie fiel genau in die Zeit, als die USA und europäische Länder über Sicherheitsgarantien für die Ukraine verhandelten.
Die verringerte Intensität der Luftangriffe vor und nach dem Gipfeltreffen in Alaska Mitte August nutzte Russland auch dafür, seine Drohnen- und Raketendepots aufzustocken und die Ukraine in den darauffolgenden Wochen umso intensiver anzugreifen. (↗ ISW, 21.8.25)
Welchen Schaden die russische Armee der Ukraine in den nächsten Monaten zufügen kann, liegt entscheidend an der Ausstattung der ukrainischen Luftwaffe und anderen Maßnahmen. (vgl. Abschnitt "Empfehlungen")
Es ist davon auszugehen, dass die russische Armee den Beschuss ziviler Ziele mit Drohnen weiter steigern wird. Allein durch die im August zurückgehaltenen Drohnen und die laufende Neuproduktion wären etwa 8.000 Angriffe im September möglich. Zum Vergleich: Von Januar bis August gab es durchschnittlich 4.150 Angriffe im Monat, im bisherigen Rekordmonat Juli wurden knapp 6.300 Drohnenangriffe registriert.
Russland baut Drohnenproduktion aus
Der ukrainische Militärgeheimdienst HUR schätzt, dass in Russland in diesem Jahr noch etwa 79.000 Drohnen der modifizierten Shahed-Reihe produziert werden, und zwar 40.000 Drohnen vom Typ Geran-2, 5.700 Drohnen vom Typ Harpy-1 sowie etwa 34.000 Drohnen-Attrappen vom Typ Gerbera. (↗ Suspilne, 12.8.25)
Nicht einbezogen in diesen Angaben sind neu entwickelte Drohnen aus Russland, die zwar schon auf dem Gebiet der Ukraine eingesetzt wurden, bisher aber nicht in großen Stückzahlen produziert werden.
Bei diesen Schätzungen ist neben dem größten Produktionsstandort in der Sonderwirtschaftszone Alabuga (Republik Tatarstan) auch das Werk IEMZ Kupol in Ischewsk (Republik Udmurtien) berücksichtigt, das allerdings am 1. Juli bei einem ukrainischen Angriff beschädigt wurde. (↗ Defence Blog, 24.7.25)
In Alabuga wird die Produktion vermutlich in der zweiten Jahreshälfte weiter gesteigert, wenn die neuen Produktionslinien, die derzeit im Bau sind, in Betrieb gehen.
10.000 Drohnenangriffe pro Monat
Die genannten Produktionskennziffern deuten darauf hin, dass der Beschuss ziviler Ziele mit Drohnen im Herbst massiv zunehmen könnte. Zieht man den realen Verbrauch in diesem Jahr von der maximal geplanten Jahresproduktion in Russland ab, kommt man auf mögliche monatliche Angriffszahlen von deutlich über 10.000 Drohnen pro Monat. Diese Zahlen sind ein ernstes Warnsignal.
Entscheidend wird sein, ob es Russland gelingt, seine Produktionskapazitäten tatsächlich zu skalieren. Sattelitenbilder zeigen, dass die Drohnenfabrik in der Sonderwirtschaftszone Alabuga derzeit umfassend erweitert und ausgebaut wird.
Satellitenbilder zeigen neue Gebäude der Drohnenfabrik Alabuga vom 12.7.25, ↗ CNN, 25.7.25
Satellitenbilder zeigen Expansion
Nach Auswertungen US-amerikanischer Analysten wurden in Alabuga zwischen Ende 2024 und Juli 2025 mindestens acht neue lagerähnliche Gebäude in der Nähe von Drohnenproduktionsstätten errichtet. Zwischen März und Juli 2025 seien zudem fast einhundert neue Gebäude entstanden – einige davon allerdings noch im Bau –, die vermutlich als Unterkünfte dienen sollen und bis zu 40.000 Arbeiterinnen und Arbeiter Platz böten. (↗ CNN, 25.7.25)
Zwar kämpft Russland mit einem massiven Mangel an Fachpersonal. Die Rekrutierung von Studierenden, Arbeitskräften aus anderen Produktionsbereichen und die verstärkte Zusammenarbeit mit Nordkorea lassen jedoch vermuten, dass die russische Staatsführung versucht, die angestrebten Produktionskapazitäten um jeden Preis zu erreichen.
Russland produziert nicht nur für den Ukraine-Krieg
Der massive Ausbau der Produktion von Langstrecken-Drohnen kann nicht allein für den Ukraine-Krieg konzipiert worden sein. Unabhängig davon, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird, werden schließlich große Produktionskapazitäten vorhanden sein, die Russland aller Voraussicht nach nutzen wird, um seine Machtansprüche in Europa zu behaupten.
Die Ukraine erscheint dabei als ein Testfeld für Russland, um neue Angriffswaffen zu entwickeln und deren Integration in vorhandene konventionelle Systeme zu verbessern. Diese Systeme könnte Russland in Zukunft auch gegen andere Gegner einsetzen, um seine geostrategischen Ziele zu erreichen.
Die Verteidigungspolitik in Europa sollte die Innovationen der Drohnentechnologie deshalb dringend in die europäischen NATO-Armeen integrieren. Dass diese Integration in bestehende Strukturen eine Herausforderung ist, macht der britische Thinktank RUSI (The Royal United Services Institute) deutlich. (↗ RUSI Disorder podcast, 12.8.2025) Man dürfe sich nicht darauf verlassen, Russland eines Tages auf dem Gebiet der Drohnentechnologie zu schlagen. Vielmehr sei eine umfassendere Integration neuer Technologien in bestehende Systeme vonnöten, etwa bei der Fähigkeit zu weitreichenden Luftschlägen („Deep Strikes“), bei denen man derzeit noch vollkommen abhängig von US-amerikanischen Kapazitäten sei. Der Luftkrieg in der Ukraine bleibt eines der Schlüsselfelder, um auf zukünftige Kriege besser vorbereitet zu sein – gerade in Europa.
Raketenproduktion nimmt zu
Russland wird in den nächsten Monaten sein Konzept kombinierter Luftschläge weiter ausbauen. Drohnen sind dabei oft die Vorhut, um die ukrainische Flugabwehr zu erkunden und auszulaugen, während wenig später andere Flugkörper mit einem vielfach höheren Zerstörungspotential angreifen. Wie sehen die Bestände und Produktionskapazitäten bei diesen Flugkörpern aus?
In den letzten drei Jahren haben wir für den Luftkrieg-Monitor alle quantitativen Angaben des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR zu russischen Kapazitäten in der Raketenproduktion mit den Verbrauchszahlen des Luftkriegs in der Ukraine verglichen. Wir geben nur Produktionszahlen wider, die durch diese Berechnung plausibel erscheinen. Die Angaben des HUR, insbesondere zu den Restbeständen in russischen Arsenalen (stockpiles), lassen sich allerdings nicht unabhängig überprüfen.
Es steht jedoch außer Zweifel, dass Russlands Produktionskapazitäten in der Raketen- und Marschflugkörper-Fertigung deutlich zugenommen haben. Während 2023 noch zwischen 50 und 100 angriffsfähige Flugkörper mit einer Reichweite von über 350 km pro Monat gefertigt wurden, stieg diese Kennziffer 2024 auf 100 bis 200.
Die von Russland angestrebte Produktionsrate für das Jahr 2025 liegt bei 3.000 Raketen und Marschflugkörpern längerer Reichweite. Das entspricht etwa 250 Flugkörpern pro Monat. Der HUR schätzt die monatliche Produktionsrate in Russland derzeit ebenfalls auf 200 bis 250 dieser Flugkörper. (↗ Kyiv Independent, 3.6.25)
Raketenarsenale wachsen
Vergleicht man die Produktionsziffern über die Zeit mit dem tatsächlichen Verbrauch, fällt auf, dass Russland mehr produziert, als verbraucht. Das führt zu einem ständig anwachsenden Arsenal einsatzfähiger Flugkörper.
Die Angaben zu den russischen Restbeständen wurden vom HUR in den vergangenen Jahren immer wieder nach oben korrigiert. Im Januar 2024 wurde die Gesamtzahl einsatzfähiger Raketen längerer Reichweiten auf 900 geschätzt; im November waren es bereits 1.470. Im Juni 2025 wurden die Restbestände Russlands mit 2.760 Stück veranschlagt, im Laufe des Septembers werden es nach unseren Berechnungen mehr als 3.000 sein.
Mit Blick auf die beiden am häufigsten eingesetzten Waffentypen stellt sich die Frage, wofür Russland diese überproduziert und lagert. Vom Marschflugkörper Kh-101 wurden vor zwei Jahren 35–40 Stück pro Monat hergestellt; inzwischen gelten 70 pro Monat als plausibel. Ähnlich hoch wird die aktuelle Produktionsrate der Iskander-M-Raketen eingeschätzt.
Die Produktion der Marschflugkörper der Typen Iskander-K, Kh-101 und Kalibr dient vermutlich nicht der Reservebildung. Diese Typen werden regelmäßig eingesetzt. Deren Reserve liegt jeweils zwischen 300 bis 400 Stück. Im August wurden vom Typ Kh-101 sogar mehr Flugkörper verbraucht als neu produziert. Eine zusätzliche Reserve mit den eher selten eingesetzten Flugkörpern vom Typ P-800 (Onyx) und derzeit kaum genutzten Kh-22/32 dürfte zusammen bei weiteren 1.000 Stück liegen.
Russische Raketenbestände. Nach Waffensystem, Grafik-Unterschrift: Grafik und Daten nach ↗ Kyiv Independent, 3.6.25
Strategische Bedrohung für Europa
Besonders auffällig war in den vergangenen Monaten der kontinuierlich wachsende Vorrat an ballistischen Raketen. Mittlerweile dürfte der Vorrat der Iskander-M-Raketen bei mehr als 700 liegen. Hinzu kommen über 100 Kinzhal-Hyperschallraketen.
Diese Restbestände an Raketen können auch für weitere Kriege gegen andere Gegner Russlands eingesetzt werden. Das ISW verweist in seinen täglichen Auswertungen des Krieges in der Ukraine immer wieder auf Geheimdienste, die davor warnen, die industrielle Hochrüstung Russlands sei längst nicht mehr allein auf den Krieg in der Ukraine ausgerichtet, sondern diene der Rüstung für einen zukünftigen Konflikt mit NATO-Ländern.
Kritische Lücke in der europäischen Flugabwehr
In Europa stehen nicht genügend geeignete Abfangsysteme gegen ballistische Raketen, etwa vom Typ Patriot, bereit. Hinzu kommt, dass die nötige Zahl an Abwehrraketen (interceptors) auch in zwei oder drei Jahren weltweit nicht in ausreichender Menge produziert werden können. Angesichts zunehmender globaler Konflikte könnten die USA als Lizenzgeber künftig auch erwägen, diese raren Abfangressourcen bewusst zurückzuhalten, um sie für andere Konfliktregionen außerhalb Europas bereit zu halten.
Das Bedrohungspotenzial der von Russland jährlich produzierten 840 bis 1.040 Stück Iskander-M- und Kh-47M2-Raketen ist hoch. Nach einer Analyse von Fabian Hoffmann, der an der Universität Oslo zu Raketen und Nuklearstrategien forscht, könnten die europäischen NATO-Staaten in den kommenden Jahren im günstigsten Fall 400 bis 500 Patriot-Abfangraketen pro Jahr erhalten. (↗ Hartpunkt, 6.7.25)
Wenn man berücksichtigt, dass bei jedem Angriff mit ballistischen Raketen in der Regel zwei Abfangraketen eingesetzt werden müssen, könnten damit jährlich nur 200 bis 250 ballistische Raketen aus Russland bekämpft werden.
Neben dem US-amerikanischen Abwehrsystem Patriot kann auch das europäische SAMP/T-System ballistische Raketen abfangen, das mit Abfangraketen vom Typ Aster 30 bestückt wird. Nach Einschätzung Hoffmanns werden den europäischen Staaten künftig jährlich nicht mehr als 100 Abwehrraketen dieses Typs zur Verfügung stehen.
Selbst ein günstiges Szenario – also, wenn man annimmt, dass diese Abfangraketen nicht für andere Angriffe eingesetzt werden – zeigt, dass europäische Länder in den kommenden Jahren nicht ausreichend durch Flugabwehrsysteme wie Patriot oder SAMP/T geschützt sind. (↗ Hartpunkt, 6.7.25)
Notwendiger Strategiewechsel
Das hat massive Konsequenzen für die Verteidigungsstrategie Europas. Hoffmann rät dazu, diese dringend zu überdenken. Europäische Staaten müssten „von einer denial- zu einer punishment-Haltung übergehen“. Das bedeutet: Wenn NATO-Staaten Russland nicht glaubhaft signalisieren können, dass sie sich erfolgreich gegen einen Angriff verteidigen werden, „müssen sie durch die Androhung inakzeptabler Kosten abschrecken“.
Der Übergang zu einer „auf Vergeltung ausgerichteten Countervalue-Strategie“ sei für Europa industriell wie kulturell eine große Herausforderung, doch ohne glaubwürdige Gegenschlagkapazität sei Europa Russland ausgeliefert.
Ukrainische Flugabwehr stärken
Zu den kurzfristigen Aufgaben zum Schutz ukrainischer Städte zählt vor allem die kontinuierliche und ausreichende Bereitstellung von Flugabwehrmunition und Drohnenabwehrsystemen, um die erwarteten russischen Angriffswellen im Herbst und Winter abzuwehren. Zwar existieren leistungsfähige, aber teure Systeme aus Deutschland (↗ Defence Express 29.8.25), das größte Potenzial liegt jedoch in der Entwicklung und Skalierung inländischer Abwehrtechnologien in der Ukraine. Hierfür bedarf es europäischer Partner und zügiger Finanzierung mit einer transparenten Mittelvergabe, die Qualitätskriterien, Innovation und Skalierungsfähigkeit garantiert, wie die Diskussion um die Firma Fire Point zeigt. (↗ Dons Weekly 1.9.25)
Die Ukraine hat wiederholt bewiesen, dass sie unbürokratisch innovative Lösungen findet, etwa beim Projekt „FrankenSAM“, das alte sowjetische Abwehrsysteme für westliche Raketen umrüstete. Gleichermaßen wurden sowjetische Flugzeuge für den Abschuss von westlichen Raketen angepasst. (↗ Dons Weekly 4.8.25)
Entscheidend ist nun der Ausbau von Abfangdrohnen, die zunehmend als Rückgrat moderner Luftverteidigung gelten und zugleich neue Anforderungen an Lieferketten, Produktion und Anpassungsfähigkeit an das ernorme Tempo technologischer Entwicklung stellen. (↗ In Defence, 28.8.25)
Auch die fehlende Priorisierung der Ukraine bei westlichen Partnern in der Vergabe hochwertiger Abfangmunition gegen Raketen und Marschflugkörper ist ein Problem. Ohne ausreichende Versorgung auch für den kommenden Winter wären kritische Infrastrukturen und Rüstungsbetriebe gefährdet, was westliche Unterstützer weitere Milliarden Euro kosten würde. Frühzeitige und umfangreiche Investitionen in die ukrainische Luftverteidigung sind wesentlich günstiger.
Sanktionspotenzial ausschöpfen
Mittelfristig sind Sanktionen weiter sinnvoll, um die Kapazität der russischen Kriegsindustrie einzuschränken. Der bereits 2022 von der G7 beschlossene Ölpreisdeckel wurde bisher nicht konsequent umgesetzt. Ohne Verschärfung wird Russlands Aufrüstung kaum gebremst. Dazu fehlt nach wie vor nicht nur der politische Wille, sondern auch eine Absicherung im Falle der direkten Konfrontation mit Russland, wie die Kontrolle eines ohne Flagge fahrenden Öltankers in Estland zeigt, worauf Russland mit der Entsendung von Kampfjets reagierte. (↗ Reuters, 15.5.25)
Deep-Strike-Fähigkeiten unterstützen
Am effektivsten bleiben jedoch die Einsätze gegen russische Produktions- und Logistikstandorte durch ukrainische Drohnen- und Marschflugkörpereinsätze. Diese haben seit 2024 mehrfach Flugplätze, Munitionslager und Raffinerien getroffen und die russische Luftwaffe sowie Rüstungsproduktion spürbar eingeschränkt. Vor allem die Angriffe auf die wenigen russischen A50-Frühwarn-Flugzeuge (AWACS) minimierten die Operationsradien der russischen Luftwaffe.
Seitdem hat die ukrainische Armee vielfach russische Ölraffinerien und Produktionsstätten von Steuer- und Mikroelektronik, über Raketentreibstoff und Fiberglas bis hin zu Enteisungsmittel für Flugzeuge angegriffen. Dies führte zu Produktionseinschränkungen von Marschflugkörpern, Munition und anderen Waffensystemen. Auch Drohnen-Produktionsstätten wurden mehrfach angegriffen.
Besonders hervorzuheben sind die seit Juni 2024 zunehmenden Angriffe auf russische Flugabwehrstellungen auf der besetzten Krym. Diese Anlagen sind nicht nur zentral für die Luftverteidigung, sondern dienen auch als Ausgangspunkt für Angriffe auf zivile Ziele im ukrainischen Festland.
Je erfolgreicher die ukrainische Luftwaffe russische Flugabwehrsysteme ausschaltet, desto mehr Ersatz muss Russland aus anderen Frontabschnitten und dem Hinterland abziehen. Dadurch sinkt die Abwehrkraft, und ukrainische Drohnen und Marschflugkörper können leichter Produktionsstätten und andere Ziele in Russland treffen.
Für die Wirksamkeit des derzeit viel diskutierten ukrainischen Marschflugkörpers FP-5 „Flamingo“ ist die Schwächung der russischen Flugabwehr entscheidend, da der Flamingo vergleichsweise leicht abzufangen ist.
Erst wenn es genügend Lücken in der russischen Flugabwehr gibt, werden Angriffe mit diesem Marschflugkörpertyp ein größerer Erfolg werden. Dazu benötigt die Ukraine schwer abfangbare Lenkflugkörper modernen Typs, um die Bedingungen für eine noch effektivere Deep-Strike-Strategie zu schaffen. Zu diesen Waffen gehört auch der Taurus-Marschflugkörper.
Wie bereits in mehreren Monitor-Berichten hervorgehoben, ist die Stärkung der ukrainischen Deep-Strike-Fähigkeiten entscheidend, um einen weiteren Ausbau der russischen Angriffskapazitäten zu verhindern, die westliche Abwehrsysteme sowie die westlichen Produktionskapazitäten von Flugabwehrmunition überfordern könnte.
Die Fähigkeit der Ukraine zu gezielten Schlägen in die Tiefe dient daher nicht nur ihrem eigenen Überleben, sondern unmittelbar auch der Sicherheit ganz Europas.
Hochgeschwindigkeits-ODIN Win_Hit FPV-Abfangdrohne in vertikaler Startkonfiguration, entwickelt, um feindliche Drohnen im Flug abzufangen, ↗ Militarnyi, 16.7.2025
Der monatlich erscheinende Newsletter „Monitor Luftkrieg Ukraine – Analysen zum Schutz ukrainischer Städte und Infrastruktur“ stellt Analysen der aktuellen Angriffswellen bereit und zeigt Trends auf, die Einschätzungen zur weiteren militärischen Entwicklung und zu den militärischen Kapazitäten Russlands zulassen.
Der Monitor Luftkrieg Ukraine richtet sich an politische Entscheidungsträger*innen, an Expert*innen im sicherheits- und militärpolitischen Bereich sowie an Fachjournalist*innen.
Ziel des Monitors ist es, datenbasierte Empfehlungen zu formulieren, wie westliche Partnerländer den Schutz der Ukraine vor russischen Luftangriffen besser unterstützen können.
Der Monitor Luftkrieg Ukraine wird von den „Kyjiwer Gesprächen“ in Zusammenarbeit mit dem OSINT- und Datenanalyst Marcus Welsch und der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegeben.
Seit Herbst 2022 ist aus akribischer Analysearbeit eine umfangreiche Datenbank entstanden, die jeden einzelnen Luftangriff Russlands auf zivile Ziele der Ukraine erfasst.
Weitere Informationen zu der Reihe sowie die alle vorigen Ausgaben finden Sie auf unserer Website. (↗ kyiv-dialogue.org)
Über den Autor
Marcus Welsch ist selbstständiger Analyst, Dokumentarfilmer und Publizist. Welsch beschäftigt sich mit OSINT-Journalismus und Datenanalysen seit 2014, besonders zum russischen Krieg gegen die Ukraine, zu militärischen und außenpolitischen Themen, sowie zum deutschen Diskurs darüber.
In Kooperation mit den Kyjiwer Gesprächen führte Marcus Welsch seit 2023 Recherchen und Podiumsdiskussionen zur westlichen Sanktionspolitik durch.
Seit 2015 betreibt er die Daten- und Analyse-Plattform ↗ Perspectus Analytics.
Die Datenbank wird regelmäßig mit den Tagesberichten des Institute for the Study of War (ISW) in Washington abgeglichen (↗ ISW). Die erfassten Abschüsse stammen aus Berichten der ukrainischen Luftwaffe (↗ KPSZSU), für die Erwähnung regionaler Ziele und Schäden werden - wenn vorliegend - die Angaben ziviler und militärischer Verwaltungen herangezogen und durch zusätzliche OSINT-Quellen abgeglichen und gelten als weitesgehend plausibel.
Datenquellen für die Datenbank
Die Schäden von Luftangriffen genau zu quantifizieren stellt im Kriegsfall immer ein Problem dar. Zu genaue Angaben würden der russischen Kriegsführung bei der Bewertung und Planung neuer Angriffe in die Hände spielen. Deswegen unterliegt die Berichterstattung Einschränkungen. (↗ Expro, 2.1.2025) Diese Datenauswertung konzentriert sich deswegen auf die Analyse der Angriffe und ihre Dynamik und weniger auf die Auswertung der Schäden.
Mit Datenpunkten über 36 Monate und rund 53.000 ausgewerteten Angriffen lassen sich robuste Trends aufzeigen.
Die monatlichen Zahlen der Flugkörper sind Näherungswerte, da Unregelmäßigkeiten im ukrainischen Zähl- und Meldesystem festgestellt wurden. Abweichungen zu anderen OSINT-Zählungen liegen bei etwa 10 % und darunter, oft unter 3 %.
Ein Vergleich mit der Flugkörperauswertung des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington über einen Zeitraum von über zwei Jahren ergibt eine Abweichung von lediglich 1,6 %. (↗ CSIS)
Bei Angriffen, die keine eindeutige Quantifizierung zulassen, wurden die niedrigeren naheliegenden Werte skaliert. Die Abschussraten bei hoher Intensität können aufgrund von ausgebliebenen Meldungen höher ausfallen als angegeben, es wird von einer Abweichung von unter 5 % ausgegangen.
Titelfoto: Statue von Wolodymyr dem Heiligen am Ufer des Dnipro, Foto: Maksym Pozniak-Haraburda