Mariupol, Melitopol, Berdjansk, Cherson und andere Orte im Süden und Osten der Ukraine wurden seit dem 24. Februar 2022 von der russischen Armee eingenommen. Die Lage dort ist katastrophal. Alle Bürger*innen, die gegen die russische Okkupation sind, riskieren Entführungen, Vergewaltigungen oder gar Exekution. Verbindungen zur freien Ukraine werden bewusst unterbunden und die verbleibende Bevölkerung russifiziert. Eine Analyse.
Von Mattia Nelles
In den ersten Stunden und Tagen des Krieges rückte die russische Armee tief in die Ukraine vor. Insbesondere im Süden konnte sie unerwartet größere Geländegewinne erzielen und Städte wie Cherson, Melitopol und Berdjansk schnell einnehmen. Mariupol wurde seit Anfang März belagert und im Mai schließlich vollständig eingenommen. Millionen Ukrainer*innen fanden sich plötzlich unter russischer Besatzung wieder. Doch die Versuche, schnell Okkupationsregime unter Beteiligung der lokalen Eliten zu etablieren, scheiterten. Die große Mehrheit der Bürgermeister*innen, lokalen Abgeordneten, Journalist*innen, Aktivist*innen und aktiven Bürger*innen des Südostens weigerte sich zu kooperieren. Seitdem sind sie russischen Repressionen und einer rasch voranschreitenden Russifizierung ausgesetzt.
Entführungen „als Taktik, um den Widerstand zu brechen“
Bereits in den ersten Kriegswochen begannen die russischen Besatzer mit gezielten Entführungen. Nach Angaben von ukrainischen Menschenrechtsorganisationen sind besonders die aktivsten Teile der Gemeinden betroffen, Bürgermeister*innen, Stadträt*innen, Aktivist*innen, Lehrer*innen und sogar Geistliche. In einigen Fällen wurden sogar Angehörige von Repräsentant*innen des Staates oder Journalist*innen entführt, um diese unter Druck zu setzen.
Die ukrainische Menschenrechtsorganisation ZMINA beobachtet die Entführungen aktiver Bürger*innen und verifizierte bis heute (Stand 31.05.2022) 196 Entführungen, davon 65 in Cherson und 73 im Saporischschja Oblast. Insgesamt wurden 104 Entführte wieder freigelassen und zehn nach ihrer Entführung tot aufgefunden. Weitere 85 sind noch in russischer Gefangenschaft.
„Die meisten der von uns erfassten und bestätigten Entführten sind Aktivist*innen und Freiwillige, die humanitäre Hilfe leisten oder bei Evakuierungen helfen, sowie Teilnehmer*innen der Proteste gegen die Besatzung“, erklärt Nadija Dobrianska, Projektkoordinatorin von ZMINA. Nicht wenige der Entführten werden noch am selben Tag oder innerhalb weniger Tage wieder freigelassen. In den meisten Fällen werden sie eingeschüchtert, unter Druck gesetzt und teilweise gefoltert. „Das ist eine Taktik, um den Widerstand zu brechen“, sagt Dobrianskaa.
Die Initiative Euromaidan SOS registrierte sogar mehr als vierhundert Entführungen von Ukrainer*innen. 238 befinden sich noch immer in russischer Gefangenschaft. „Sie verschwanden unter Umständen, die darauf hindeuten, dass sie von russischen Soldaten oder Geheimdienstlern entführt wurden. Der Rest wurde ausgetauscht oder freigelassen“, schreibt Oleksandra Matwijtschuk vom Center for Civil Liberties auf Anfrage.
Menschenrechtsorganisationen wie ZMINA konzentrieren sich beim Registrieren der Fälle vor allem auf die im Widerstand aktiven Bürger*innen. Die tatsächliche Zahl der Entführten ist wahrscheinlich deutlich höher. Der selbst entführte und später freigetauschte Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow, sprach Ende Mai von über 500 entführten Menschen in seiner Stadt. Auch der Gouverneur des Oblast Saporischschja, Oleksandr Staruch, sprach Ende Mai von 300 bestätigten Entführungen im Oblast. Die wirkliche Zahl, so Staruch, liege aber wahrscheinlich in den Tausenden. Die Mehrheit dieser Menschen wurde für wenige Tage entführt.
Noch bis Anfang April organisierten Bürger*innen aus den besetzten Gebieten Demonstrationen gegen die Besatzung. Diese wurden unter dem Einsatz grober Gewalt auseinandergetrieben und die Organisator*innen vom russischen Geheimdienst und der Nationalgarde verhaftet und eingeschüchtert. Ab April konnte ein deutlicher Rückgang der Proteste in den Oblasten Cherson und Saporischschja beobachtet werden. Es ist schlichtweg zu gefährlich geworden, öffentlich in größeren Gruppen zu demonstrieren.
Kaum Kenntnisse über das genaue Ausmaß des Terrors im Südosten
Erst nachdem der Vormarsch der russischen Truppen auf Kyjiw gescheitert war und die Angreifer sich zurückzogen, wurde das Ausmaß des russischen Besatzungsterrors deutlich. Allein in der Region Kyjiw wurden über 1.000 Zivilist*innen getötet, davon laut Angaben der ukrainischen Staatsanwaltschaft 75 Prozent durch gezielte Hinrichtungen. Auch Vergewaltigungen scheinen ein Mittel der russischen Besatzer zu sein. Aus Tschernihiw, Sumy und dem Kyjiwer Gebiet wurden der Staatsanwaltschaft bereits mehrere Dutzend Fälle gemeldet. Die jüngst vom ukrainischen Parlament abgerufene Ombudsfrau für Menschenrechte, Ljudmila Denisowa, sprach im ukrainischen Fernsehen von über 400 Fällen, die ihr bekannt sind.
Auf die Frage, ob sich die russische Besatzung um Kyjiw und im Norden der Ukraine von der im Südosten unterscheidet, antwortet die Menschenrechtsexpertin Nadija Dobrianska: „Wir wissen einfach nicht genug darüber, was vor sich geht. Es ist extrem schwierig, Zugang zu Informationen zu bekommen. Zu Beginn der Invasion hörten wir aber von dem ersten Vergewaltigungsfall des Krieges aus Cherson.“ Sie fügt hinzu: „Ich denke, wir werden noch viel Schlimmeres hören, wenn diese Gebiete befreit werden. Genau wie es in Tschernihiw, Sumy oder Kyjiw der Fall war.“
Zerstörung und Vertreibung
Mariupol ist zu einem Symbol des russischen Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Ukraine geworden. Dort praktizierte die russische Armee ihre rücksichtslose Kriegsführung, die nichts anderes als die Zerstörung der gesamten Hafenstadt zum Ziel hatte. Das Ausmaß der Zerstörung dort ist bereits gut dokumentiert. Noch offen ist, wie viele Menschen bei der brutalen Belagerung und Erstürmung ums Leben kamen. Satellitenbilder zeigen neue, große Massengräber, die von russischen Soldaten ausgehoben wurden. Der Stadtrat und ein Berater des Bürgermeisters von Mariupol sprachen jüngst davon, dass neben den 5.000 Zivilist*innen, die von Mitarbeiter*innen der Stadt bis Mitte März beerdigt wurden, weitere 16.000 Menschen von den russischen Besatzern begraben worden sind.
Mariupol im Krieg. Foto: Evgeny Sosnovsky
Noch sollen sich knapp 100.000 Menschen in der fast vollkommen zerstörten Stadt aufhalten. Maxym Borodin, Abgeordneter des Mariupoler Stadtrats und aus der Stadt geflohener Aktivist, schildert die schlimmen Lebensbedingungen der Menschen vor Ort: "Die Stadt ist „vollkommen zerstört und unbewohnbar gemacht worden. Die verbleibenden Menschen leiden und sind russischen Repressionen ausgesetzt“. Es gebe keine medizinische Versorgung, kein voll funktionsfähiges Krankenhaus, keinen Strom, keine Wasserversorgung, Kanalisation oder Heizung, so Borodin. Mitte Mai warnte auch der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, vor einer drohenden Cholera-Epidemie, die von der Verseuchung des Grundwassers durch die zahlreichen verwesenden Toten verursacht werden könnte.
„Es ist der reine Wahnsinn“, so Borodin. „Um von einem Stadtteil in den nächsten zu kommen, brauchen die Menschen Passierscheine, die sie nach einer Kontrolle oder gegen Bestechungsgelder erhalten.“ Damit sie überhaupt humanitäre Hilfe von den Besatzern in Anspruch nehmen können, müssen die Bürger*innen sich registrieren lassen und Überprüfungen unterziehen.
So werden täglich Menschen festgenommen und aus der Stadt in Filtrierungslager gebracht. Die ehemalige Ombudsfrau Denisowa sprach Ende Mai von über 4.000 Menschen, meist Männer, die sich in solchen Lagern im Donezker Gebiet aufhalten sollen. Auch Borodin schildert, dass zwei seiner Freunde, die als Fahrer bei Evakuierungen von Zivilist*innen geholfen hätten, in solchen Lagern festgehalten werden.
Viele Bürger*innen aus den besetzten Gebieten wurden nach Russland gebracht. Präsident Selenskyj bezifferte die Zwangsevakuierungen auf 500.000. Russland selbst meldete, über eine Million Ukrainer*innen „evakuiert“ zu haben. Ljudmila Denisowa sprach davon, dass über 200.000 ukrainische Kinder nach Russland gebracht wurden. Einige der nach Russland gebrachten Ukrainer*innen konnten bereits über Estland in die EU fliehen. Weitere Familien wurden über ganz Russland verteilt. Über 300 Bürger*innen, inklusive 90 Kinder aus Mariupol, wurden nach Angaben von Petro Andriuschtschenko, Berater der Mariupoler Stadtverwaltung, nach Wladiwostok gebracht. Ohne eigenes Geld können sie nicht mehr zurück nach Europa reisen.
Die lokalen Eliten verweigern die Kooperation
Neben den lokalen Aktivist*innen gerieten insbesondere auch Bürgermeister*innen, Dorfvorsteher*innen und Stadträt*innen in den Fokus russischer Repressionen. „Sie werden entführt und gefoltert, um sie zur Zusammenarbeit zu zwingen. Viele von ihnen werden noch immer vermisst“, sagt Moskwytschowa. ZMINA registrierte Entführungen von 75 Bürgermeister*innen und Abgeordneten der Stadt- und Lokalräte. 30 von ihnen werden immer noch vermisst. Darunter der Bürgermeister von Hola Prystan im Cherson Oblast, Alexander Babych, und Iwan Samojdjuk, der Vizebürgermeister von Enerhodar im Saporischschja Oblast. Beide sind seit zwei Monaten in illegaler russischer Gefangenschaft.
44 der von ZMINA als entführt registrierten Bürgermeister*innen und Ortsvorsteher*innen sind wieder freigelassen worden. Die Dorfvorsteherin von Motyschyn im Kyjiwer Oblast, Olga Suchenko, wurde nach dem Rückzug der russischen Truppen tot und mit Folterspuren in einem Massengrab gefunden.
Die Entführungen und brutalen Einschüchterungsversuche ukrainischer Bürgermeister*innen und Dorfvorsteher*innen sind bisher kaum erfolgreich. In den besetzten Gebieten im Süden und Südosten weigern sich die lokalen Behörden und deren gewählte Vertreter*innen, mit den russischen Besatzern zusammenzuarbeiten.
Die Loyalität der Bürgermeister*innen zur Ukraine überraschte einige Beobachter, die im Süden und Südosten doch „prorussische Einstellungen“ wahrgenommen haben wollten. Tatsächlich nahmen auch die Russen an, dass die lokale Elite mit ihnen kooperieren würde. Sie fielen ihrer eigenen Propaganda zum Opfer und erwarteten, dass russischsprachige Ukrainer*innen sie als „Befreier“ begrüßen würden. Dass das nicht geschah, hat mit der starken Ablehnung des russischen Angriffskrieges unter den Ukrainer*innen zu tun. Gleichzeitig hatten insbesondere die gewählten Bürgermeister*innen acht Jahre Zeit, die Dezentralisierungsreform zu erleben und zu gestalten, die nachhaltig Befugnisse und finanzielle Mittel nach unten abgibt. Teil eines zentralisierten russischen autoritären Systems zu werden, wie man es auf der Krim und in der direkten Nachbarschaft im besetzten Donbas beobachten konnte, war für niemanden reizvoll.
Die Weigerung hatte zur Folge, dass fast alle Bürgermeister*innen abgesetzt wurden. Viele von ihnen haben, genauso wie zahlreiche Aktivist*innen, die besetzten Gebiete verlassen. Der Chef der regionalen Militärverwaltung Chersons sprach Ende Mai davon, dass 50 Prozent der Bevölkerung das Oblast Cherson verlassen haben. Ähnliches wird aus den besetzten Teilen Saporischschjas berichtet.
Ein Hausmeister und Randfiguren der Lokalpolitik kollaborieren
Doch obwohl wesentliche Teile der lokalen Eliten die Kooperation verweigern, gibt es einige Vertreter*innen, die mit den russischen Besatzern kollaborieren, vor allem Anhänger*innen der ehemaligen Partei „Oppositionsplattform (OPZG) für das Leben“. Die Kollaborateur*innen werden von der ukrainischen Seite als „Gauleiter“ und „lokale Freaks“ bezeichnet. Der bekannteste Kollaborateur ist Wladimir Saldo, ein hochumstrittener ehemaliger Rada-Abgeordneter und 2015 abgewählter Bürgermeister von Cherson. Nach der Entführung und Absetzung des gewählten Bürgermeisters Iwan Fedorow setzten die Russen Halyna Daniltschenko, eine nach Angaben von lokalen Expert*innen unbeliebte Abgeordnete der OPZG, als Statthalterin ein. In Berdjansk wurde mit Alexander Saulenko ein gänzlich unbekannter Statthalter eingesetzt, der nach Angaben der ukrainischen Staatsanwaltschaft vorher als Hausmeister tätig war.
Insgesamt ist es den russischen Besatzern trotz Angeboten und Drohungen nicht gelungen, größere Teile der lokalen Elite und der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Zu den Folgen der schwachen Kollaboration im Südosten gehört, dass die Besatzer nicht einmal ein Fake-Referendum organisieren konnten, um ihrer Einverleibung einen Schein von Legitimation zu geben. Nach mehreren Verschiebungen soll ein Referendum nun frühestens 2023 stattfinden.
Russifizierung des besetzten Südostens
Die Repressionen nach dem Einmarsch wurden von der russischen Propagandamaschinerie und einer oktroyierten Russifizierung begleitet. Wenige Stunden nachdem Gebiete unter russische Kontrolle gebracht wurden, begannen die Besatzer damit, ukrainische Medien durch russisches Propaganda-Fernsehen und -Radio zu ersetzen und den Internet- und Telefonempfang zu kappen bzw. unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine der Hauptnachrichten der Besatzer im Südosten lautet: Die Region wird nie wieder unter ukrainische Kontrolle gelangen. In vielen Städten und Dörfern ist der russische Rubel bereits die Hauptwährung.
Statt sich dem Leid und den Bedürfnissen der Zivilbevölkerung zu widmen, werden die ukrainischen Ortsnamen mit russischen Schreibweisen auf Schildern ersetzt und mit der Losung „für immer Russland“ ergänzt. An einigen Orten, wie in Henitschesk im Oblast Cherson, wurden sogar Lenin-Denkmäler aufgestellt und an fast allen Verwaltungsgebäuden wurden russische Fahnen gehisst.
Präsident Putin unterzeichnete ein Dekret, welches die Ausgabe von russischen Pässen an ukrainische Staatsbürger*innen in den neubesetzten Gebieten im Südosten ermöglicht, wie schon seit 2019 im Donbas. Wenige Tage später wurde ein weiteres Dekret unterzeichnet, was die Vergabe von russischen Pässen an Waisen vereinfacht. Bis heute ist unklar, wie viele Ukrainer*innen von diesem Angebot Gebrauch machen. Die Ablehnung, die den Besatzern entgegenschlägt, ist groß und ebenso die Sorge, dass mit der Vergabe von Pässen auch eine mögliche Zwangsmobilisierung in die Armee verbunden sein könnte.
Russifizierung des gesamten Schulwesens
Neben Propaganda, Symbolik und der möglichen Verteilung von Pässen umfasst die russische Besatzung auch eine schnell voranschreitende Russifizierung des ukrainischen Schulwesens. Laut Ljudmila Denisowa, der ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten der Werchowna Rada, sollen in „Anpassung“ an den Übergang zum „russischen Lehrplan“ zunächst nur noch drei Fächer an den Schulen unterrichtet werden: Russische Sprache und Literatur, russische Geschichte und Mathematik.
Die Besatzungstruppen organisierten auch Treffen mit Lehrer*innen, um sie zur Mitarbeit zu zwingen. Denisowa zufolge werden „Andersdenkende mit negativen Konsequenzen bedroht“ – von Filtrationslagern bis hin zur Einschränkung der humanitären Hilfe. Ähnlich wie die Bürgermeister*innen weigert sich auch eine Mehrheit der Schulbehörden und Schulleiter*innen, mit den Besatzern zu kooperieren und den Unterricht nach russischen Lehrplänen stattfinden zu lassen. Nach immensem Druck und einigen Entführungen traten zahlreiche Schulleiter*innen zurück und verließen die besetzten Gebiete.
Am 28. März wurde Iryna Schtscherbak, die Leiterin der Schulbehörde von Melitopol, entführt, nachdem sie sich geweigert hatte, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Seit ihrer Entführung ist Schtscherbak verschwunden. Auch vier Schulleiterinnen in Melitopol, die sich demonstrativ der Zusammenarbeit verweigerten, wurden entführt und mehrere Tage lang festgehalten. Heute sind kaum Kindergärten und Schulen geöffnet und die Eltern halten die große Mehrheit der Kinder von den Schulen fern.
Aus Mariupol berichtet Petro Andriuschtschenko, ein Berater des Bürgermeisters, dass die Besatzer bereits gezielt durch Bibliotheken und Schulen gehen und ukrainische Bücher entfernen, die sie für extremistisch halten. Darunter sind Bücher über ukrainische Geschichte und Literatur. Das Vorgehen der Besatzer im Südosten der Ukraine folgt einem Muster, das bereits von der Krim und aus dem Donbas bekannt ist. Seit 2015 wurden systematisch alle Elemente der ukrainischen Staatlichkeit aus dem öffentlichen Leben und Schulwesen entfernt und selbst die ukrainische Sprache nicht mehr unterrichtet. Das alles mit dem Ziel, die ukrainische Identität auszulöschen.
Getreideraub und Verkauf nach Russland
Bilder von marodierenden russischen Besatzern aus dem Kyjiwer Umland gingen um die Welt. Mitgenommen wurde alles, von Geld, Fernsehgeräten und Autos bis hin zu Waschmaschinen. Es gibt wenig genaue Informationen über das tatsächliche Ausmaß der russischen Plünderungen in den besetzten Gebieten im Südosten, einer wichtigen Agrarregion der Ukraine, in der sowohl Getreide als auch Obst und Gemüse für den ukrainischen Markt angebaut werden.
Anfang Mai meldeten internationale Medien, dass modernste Traktoren und weiteres Equipment im Wert von mehreren Millionen Euro nach Russland geschafft wurden. Ende Mai meldete die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS, dass die von Russland besetzte Region Cherson mit „dem Export“ von Getreide nach Russland begonnen habe. Seit Wochen sprechen ukrainische Vertreter*innen von einem massiven Getreideraub der Russen. Laut Präsident Volodymyr Selenskyj soll Russland bereits ein Drittel der 1,5 Millionen Tonnen Getreide in den besetzten Gebieten gestohlen haben. Der Krieg verhindert zudem, dass über 20 Millionen Tonnen aus der freien Ukraine per Schiff exportiert werden können.
„Lasst uns nicht allein mit den russischen Repressionen“
Russland war vom ukrainischen Widerstand gegen die Okkupation überrascht und geht seither brutal gegen aktive Teile der ukrainischen Zivilgesellschaft und Staatlichkeit vor. Alle, die gegen die russische Okkupation sind, riskieren Entführungen, Vergewaltigungen oder gar eine Exekution. Verbindungen zur freien Ukraine werden bewusst unterbunden und die verbleibende Bevölkerung russifiziert. Es sind brutale Methoden, wie wir sie bereits seit 2014/2015 von der Krim und aus dem besetzten Donbas kennen. Sie zielen auf nichts weniger als die Auslöschung der ukrainischen Identität im besetzten Süden und Südosten ab.
Maxym Borodin appelliert deswegen eindringlich an uns Deutsche und Europäer*innen: „Lasst uns nicht allein mit den russischen Repressionen.“ Eine längere russische Besatzung durch mögliche Kompromisse und Gebietsverluste würde für Hunderttausende Ukrainer*innen bedeuten, in einem „schwarzen Loch“ von endlosen und willkürlichen Repressionen zu verschwinden und einer gewaltsamen Russifizierung ausgesetzt zu sein.
Mattia Nelles ist Ukraine-Experte und arbeitete bis zum Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine.