Im Oktober 2023 richteten die „Kyjiwer Gespräche“ in Zusammenarbeit mit der International Renaissance Foundation und der Partnerorganisation „Horizon Zmin“ aus Tscherkasy ein Netzwerktreffen „Zivilgesellschaft im Wiederaufbau“ für 40 regionale Partner und Alumni der „Kyjiwer Gespräche“ in Kyjiw aus.
Die Netzwerktreffen dienen der fachlichen Fortbildung und dem horizontalen Austausch von Best Practices und Erfahrungen innerhalb des Netzwerks.
Sie tragen außerdem dazu bei, die Projektaktivitäten der „Kyjiwer Gespräche“ an den konkreten und aktuellen Bedarf der Netzwerkmitglieder anzupassen.
Themen des diesjährigen Treffens waren Best Practices in der Arbeit mit Binnenvertriebenen, die Rolle der Zivilgesellschaft in der lokalen Selbstverwaltung und Korruptionsprävention im Wiederaufbau.
Von Stefanie Schiffer, Mitbegründerin der Kyjiwer Gespräche und Geschäftsführerin des Europäischen Austauschs
An dem dreitägigen Netzwerk- und Fortbildungstreffen der Kyjiwer Gespräche nahmen 40 Mitglieder unseres lokalen Netzwerks teil. Vorwiegend Vertreter*innen von CSOs sowie einige Vertreter*innen von Stadträten bzw. Verwaltungen.
Fachlichen Input gab es zur Rolle der lokalen Selbstverwaltung und der Korruptionsprävention im Wiederaufbauprozess sowie zu erfolgreicher Arbeit mit Geflüchteten.
Ziel war es, die regionalen Akteure mit Kyjiwer Expert*innen in Kontakt zu bringen, Kenntnisse und Fähigkeiten für die öffentliche Kontrolle des beginnenden Wiederaufbaus zu vermitteln, Partizipationsverfahren im Kriegsrecht kennenzulernen und aus dem Austausch mit PartnerInnen Kraft und Anregungen für die eigene Arbeit zu schöpfen.
Oleksandr Solontai erklärte das Funktionieren der lokalen Selbstverwaltung im Wiederaufbau: Von den 1469 ukrainischen Gemeinden befinden sich derzeit 176 unter Militärverwaltung, was bedeutet, dass die lokale Selbstverwaltung ausgesetzt ist und die Städte/Orte von einer von Kyjiw eingesetzten Verwaltung geführt werden.
Transparenz und Partizipation sind hier erschwert. Der Wiederaufbau muss aber auch hier öffentlich kontrollierbar sein. Alle ukrainischen Gemeinden sollen bis 27. Januar 2024 Entwicklungspläne erarbeitet haben. Bürger*innen können sich an deren Erarbeitung beteiligen. In ihnen soll aufgeführt sein:
Bürger*innen können Auskunft über Anfragen an die Stadterwaltung erhalten. Solontai empfiehlt, diese Anfragen in Koalitionen von mehreren CSOs zu stellen.
Oleksandr Solontai, Foto: Voloshchuk
Solontai präsentiert konkrete erfolgreiche Fallbeispiele aus Ternopil (Progressivni Ljudi), darunter die Schaffung von Sozialunternehmen, Arbeitsplätzen für Binnenvertriebene und Spendensammlungen. Landesweit verzeichnet man derzeit die höchsten Zuwachsraten im Privatsektor, insbesondere bei durch Frauen geführten Unternehmen sowie im Handel und IT-Bereich.
Viktor Nestulja, Foto: Voloshchuk
Viktor Nestulja stellt die Transparenzplattform DREAM vor, die auf der 2014 entwickelten Plattform ProZorro basiert. Zum Stand Oktober 2023 sind dort 218.000 zerstörte Gebäude gelistet. Es muss erst noch analysiert werden, was wiederaufgebaut werden kann. Der Schaden beläuft sich auf ca. 420 Mrd. USD mit steigender Tendenz. Die Bürgerapp Dija wird direkten Zugriff auf DREAM ermöglichen.
Der Ministerrat hat Ende 2022 beschlossen, dass nur solche Projekte finanziert werden sollen, die in DREAM registriert sind. Die Entwicklung von DREAM wird von einem gesellschaftlichen Rat (bestehend aus Abgeordneten und zivilgesellschaftlichen Organisationen) begleitet.
Die Gemeinden kommunizieren die Umsetzung der Projekte in Telegram. Dazu soll ein Chatbot eingesetzt werden. DREAM soll auch den internationalen Institutionen vorgestellt werden und die Dezentralisierung stützen.
Binnenvertriebene und sogar ins Ausland Geflüchtete können den Wiederaufbau ihrer Gemeinden mitverfolgen, denn die Bürgerapp Dija wird direkten Zugriff auf DREAM- Plattform ermöglichen.
Unter den ukrainischen Akteuren genießen besonders die Zivilgesellschaft und lokale Verwaltungen großes Vertrauen, wie eine Umfrage des Razumkov Centers aus dem Oktober 2023 nahelegt.
Diese Gruppen gilt es im Wiederaufbau besonders einzubinden.
Olena Kupina, Foto: Prysyazhny
Olena Kupina (Institute for Legislative Ideas) führte in ihrem Training in die Analyse städtischer Haushalte ein: Wie erhalten Bürger*innen Einblick in den Haushalt und worauf muss bei der Analyse des Haushalts geachtet werden, z.B. bei den Kosten für das Funktionieren der Verwaltung und des Stadtrats selbst oder bei Sonderhaushalten?
Eine Blitzumfrage unter den Teilnehmerinnen zeigte, dass mehr als die Hälfte bereits ihren städtischen Haushalt studiert haben.
Die Fortbildung schloss mit einer Podiumsdiskussion zu nachhaltigem Wiederaufbau. Es diskutierten:
Oleksandr Sushko (Direktor der ukrainischen Partnerorganisation International Renaissance Foundation - IRF),
Serhij Zamidra (stellvertretender Leiter der All-Ukrainian Association of Communities)
Halyna Balabanova (Gründerin der Partnerorganisation Halabuda aus Mariupol)
Maksym Nefiodov (Big Recovery Portal)
Khrystyna Zelinska (Ministerium für
Wiederaufbau)
Moderation: Iryna Haiduchyk (Leiterin der Partnerorganisation Volyn Institute of Law)
Abschlusspanel, Foto: Voloshchuk
Iryna Haiduchyk (Moderation): Wie kann „Subjektnost“ der Zivilgesellschaft beim Wiederaufbau gelingen in Bezug auf Transparenz und Mitgestaltung?
Oleksandr Sushko sieht das größte Risiko in der Schwächung der Selbstverwaltung: Die Balance zwischen nationalen und lokalen Akteuren sei die große Herausforderung für den Wiederaufbau. Es gäbe kein Vorbild oder Muster, nach dem die Ukraine vorgehen kann.
Der Krieg trägt zur Rezentralisierung bei. Auch Korruptionsskandale befördern diese Tendenz. Es besteht die Gefahr, dass Gemeinden nur als Adressaten oder Umsetzer der national getroffenen Entscheidungen einbezogen werden.
Oleksandr Sushko, Foto: Prysyazhny
Dass die Menschen nicht mitgenommen werden, ist das größte Risiko im Wiederaufbau. Es genügt auch nicht, Entscheidungen auf die lokale Ebene zu verschieben, man muss auch die Kapazitäten der Akteure in den Gemeinden und lokalen Gesellschaften verstärken. „Wir haben jetzt die Chance, diese Art der Selbstverwaltung umzusetzen und zu realisieren.“
Serhij Zamidra: Zamidra war bei den Wiederaufbaukonferenzen in Lugano, Berlin und London dabei. Bei der ersten Konferenz in Lugano waren nur zwei Bürgermeister vertreten. In London konnte 2023 dank der IRF ein großes Side-event ausgerichtet werden.
Serhij Zamidra, Foto: Prysyazhny
Für Berlin 2024 wird es zentral sein, die kommunale Ebene und die Zivilgesellschaft nicht nur bei Side-Events sondern in den Diskussionen vertreten zu haben.
Die Kyiv School of Economics hat untersucht, wie die Kommunen arbeiten: Einige wenige zentrale Akteure treffen die Entscheidungen. Die Mehrheit der Menschen ist passiv. Die Veröffentlichung und öffentliche Diskussion der kommunalen Haushalte muss für alle Gemeinden obligatorisch werden.
Bürger*innen und Opposition brauchen dieses Kontrollsystem, das derzeit im Kriegszustand aber nicht funktioniert. Die Zivilgesellschaft muss Entwicklungsdaten aus ihren Gemeinden sammeln und sie mit denen anderer Gemeinden vergleichen können.
Bibliothekare, Lehrer*innen, oder auch medizinisches Personal kann ausgebildet werden, Projekte zu entwickeln.
Maxym Nefiodov: „Wichtig ist es, dass alle relevanten Daten für den Wiederaufbau an einer Stelle zentralisiert sind.“ Nefiodov sieht zwar Potenzial in Partizipationsinstrumenten und der Einflussnahme lokaler Akteure auf den Wiederaufbau. Doch in Gegenden wo 40% - 45% der Infrastruktur zerstört ist, wo es keinen Zugang zu Internet gibt, funktioniere die Selbstverwaltung nicht.
Maxim Nefiodov, Foto: Prysyazhny
Dort wo die internationalen Geber nicht mehr kontrollieren können müssen die Gemeinden Kontrollinstrumente besitzen. Ein lokales Monitoring durch Datensammlung – Partizipation – Kontrolle über Qualität und Realisierung sei machbar.
Khrystyna Zelinska: Das Ministerium für Wiederaufbau sammelt Daten und arbeitet an Priorisierungen der Entwicklungspläne.
Khrystyna Zelinska, Foto: Prysyazhny
Halyna Balabanova: Halyna berichtet aus der Zeit der Besatzung in Mariupol als der Zeit mit dem höchsten, extremsten Grad an Selbstverwaltung, den sie je erlebt hat. 100% Vertrauen habe unter den Belagerten geherrscht. Heute nach 18 Monaten hat sich das Mariupoler Netzwerk aktiver Bürger*innen zu 60% erhalten. Sie leben über die ganze Ukraine verstreut und im Ausland.
Halyna Balabanova, Foto: Prysyazhny
Sie sind sich darüber im Klaren, dass sie nach dem Sieg in Mariupol auch mit den Besatzern zusammenleben werden, die die Stadt nicht mehr verlassen wollen oder können. Dass auch mit ihnen ein Dialog geführt werden muss und Beteiligungsprozesse auch Demokratieprozesse sind, die in jeder Gemeinde sehr unterschiedlich verlaufen können.
Die Paneldiskussion war die Frage auf, ob und wie auf internationaler Ebene Halynas Frage nach Versöhnung und Dialog beantwortet werde.
Herausforderungen bestehen darin, wie die Fortbildung und Entwicklung der Human Ressources in den Regionen gelingen kann, wie die ganz neuen Aktiven, die z.T. aus ganz anderen Milieus stammen als die etablierte Zivilgesellschaft, in bestehende Netzwerke integriert werden können - und schließlich auch, wie die Herausforderungen für Demographie, Psychologie und gesellschaftlichen Zusammenhalt beantwortet werden können.
Den Abschluss des Netzwerktreffens bildete ein Brainstorming zur weiteren Entwicklung des Netzwerks der „Kyjiwer Gespräche“.
Die Herausforderungen für die zivilgesellschaftlichen Akteure in den kleineren und mittleren Gemeinden der Ukraine sind durch die Kriegsfolgen extrem gestiegen.
Das Netzwerk bietet eine wichtige und in der Form einzigartige Plattform für horizontalen Austausch, Solidarität und gemeinsame Interessenvertretung lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure gegenüber den lokalen Verwaltungen aber auch gegenüber der Regierung in Kyjiw.
Wir bedanken uns herzlich bei allen Netzwerkpartnern, Alumni, teilnehmenden Expert*innen, unseren Partnerorganisationen „Horizon Zmin“ Tscherkasy und der International Renaissance Foundation sowie bei der Moderatorin des Netzwerktreffens Oksana Dashchakivska, Lwiw.
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Stefanie Schiffer ist Geschäftsführerin des Europäischen Austauschs und Mitbegründerin der Kyjiwer Gespräche. Seit 2012 ist Schiffer Vorstandsmitglied der European Platform for Democratic Elections (EPDE) und seit der Gründung im Jahr 2005 Mitglied des Beirats der Kyjiwer Gespräche |