Die Dezentralisierungsreform zeigt erhebliche Fortschritte in der Ukraine, auch wenn sie noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden kann. Die Lokalwahlen haben zu einer Erneuerung und Verjüngung der Gemeinderäte geführt. Auch ist der Anteil weiblicher Abgeordneter in der Lokalpolitik gestiegen. Über diese und weitere Entwicklungen diskutierten bei unserer Zoom-Diskussion am 13. Oktober 2021 Olena Nizhelska, Hanna Shavyro, Oleksandr Solontay und Wilfried Jilge.
Mit der Dezentralisierungsreform in der Ukraine nimmt das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteur*innen zu. Diese beteiligen sich in den Gemeinden am politischen Geschehen und bringen neue Ideen in den lokalen Selbstverwaltungen ein. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die alten Kräfte ihre Positionen weiterhin behaupten können. Ein Jahr nach den Lokalwahlen 2020 und vor dem Hintergrund der fortschreitenden Dezentralisierungsreform haben die Kyjiwer Gespräche am 13. Oktober eine Online-Diskussion mit Expert*innen aus der ukrainischen Kommunalpolitik organisiert.
Die Veranstaltung wurde aus Berlin mit einem Grußwort von Silke Hüper, der Leiterin der Kyjiwer Gespräche, eröffnet. Olena Nizhelska, Kommunalpolitikerin in Severodonezk, Hanna Shavyro, Geschäftsführende Direktorin des „Verbandes der offenen Städte“ in Poltawa und Oleksandr Solontay, Experte für Dezentralisierung und Lokalverwaltung, sprachen über die aktuelle Situation in den ukrainischen Regionen und die durch die Dezentralisierungsreform bewirkten Veränderungen. Die Moderation übernahm Wilfried Jilge, Osteuropa-Historiker und Ukraine-Experte beim Zentrum für Internationale Friedenseinsätze in Berlin.
Alle Expert*innen haben bestätigt, dass die Kommunalwahlen eine Erneuerung und Verjüngung der Gemeinderäte mit sich gebracht haben. Unter anderem die Genderquote erwies sich als wirksames Mittel im Kampf gegen Stereotype und führte zu einer gendergerechten Zusammensetzung der Gemeinderäte. Dort liegt der durchschnittliche landesweite Frauenanteil jetzt bei etwa 30 Prozent und stellt den höchsten Wert seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine dar. Darüber hinaus ist der Anteil von jungen Personen in den Gemeinderäten gestiegen. Der jüngste Bürgermeister hat mit 25 Jahren sein Amt angetreten. Somit beträgt das Durchschnittsalter der ukrainischen Bürgermeister*innen nach Angaben der unabhängigen analytischen Plattform „VoxUkraine“ 50 Jahre. Die Wahlbeteiligung unter jungen Menschen bleibt jedoch weiterhin gering.
Die Erneuerung der Gemeinderäte ist allerdings nicht homogen über die gesamte Ukraine verteilt. Hier haben die westlichen Regionen eine größere Bereitschaft für Veränderung bewiesen, die östlichen Regionen hingegen für etablierte und bekannte Gesichter optiert. So konnten in einigen Regionen und Gemeinden alte politische Clans ihre Positionen behaupten. Beispielweise wurden die amtierenden Bürgermeister großer Städte wie Odessa oder Charkiw bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr wiedergewählt (Die Nachwahl in Charkiw ist für den 31. Oktober 2021 geplant). Die Verlagerung von Kompetenzen auf die lokale Ebene und die stärkere Konzentration von Ressourcen in den Gemeinden erhöhe für die sogenannten alten politischen Eliten den Anreiz, um ihre Macht beizubehalten und sogar zu erweitern. Gleichzeitig wurde angemerkt, dass sich ihr Einfluss seit der Majdan-Revolution verringert hat und die oppositionellen Kräfte in den Gemeinderäten einer Monopolisierung von Macht entgegenwirken können.
Neben der Zunahme von Befugnissen vor Ort sieht die Dezentralisierungsreform eine Umstrukturierung der Verwaltungsgliederung vor. Die Beibehaltung der Rayon-Ebene und der entsprechenden Gemeinderäte bleibt weiterhin umstritten. Aktuell soll die Rayon-Ebene eine Kontroll- bzw. Aufsichtsfunktion erfüllen. Doch die einzelnen Zuständigkeiten der Bezirksräte werden unklar formuliert und kommuniziert. Darüber hinaus zieht sich die Verabschiedung der notwendigen Gesetze und der Verfassungsänderungen in die Länge.
Dies stößt vonseiten der Gemeinden auf Unzufriedenheit, weil sie im Unklaren darüber sind, welchen Einfluss die Rayon-Ebene haben wird und wie die Kommunikation zwischen den beiden Ebenen zu organisieren ist. Des Weiteren gibt es Vorbehalte, dass die Zentralregierung mithilfe der Rayons Kontrolle über die Gemeinden ausüben könnte, was zu einer Rezentralisierung des Landes führen würde. Daher ist es wichtig sicherzustellen, dass die Aufsichtsorgane auf der Rayon-Ebene unabhängig tätig sind und die Kontrolle auf zwei Ebenen – von oben und von unten – erfolgen kann. Dabei sollen die Rechte der Gemeindemitglieder garantiert werden, unter anderem das Recht, gegen mögliches Fehlverhalten der lokalen Machthaber Klage einzureichen.
Die Instrumente der kommunalen Selbstverwaltung gelten aktuell jedoch nicht für 18 Gemeinden, die sich in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten im Donbass befinden. Die Einführung der Militärisch-Zivilen Administrationen (MZA) in diesen Gemeinden wurde mit der Gefahr des Separatismus und Sicherheitsproblemen begründet und sollte einer effektiven und schnellen Entscheidungsfindung dienen.
Für die Einschätzung des tatsächlichen Risikos haben jedoch klare Kriterien gefehlt: Weder die Intensität der militärischen Einsätze noch die Entfernung zu der sogenannten Kontaktlinie noch die Anzahl der Verletzten waren ausschlaggebend. De facto konzentriert sich die komplette Kommunalverwaltung in den Händen einer einzelnen Person – der/dem Vorsitzenden der MZA, die/der von der Zentralmacht ernannt wird. In einigen Fällen wurde die Einführung der MZA dem Zweck der Effizienz nicht gerecht und befeuerte Spekulationen über möglichen Machtmissbrauch. Dabei beschränken sich die Instrumente der lokalen Demokratie für die Bürger*innen ausschließlich auf persönliche Vorsprachen, direkte Aktionen oder die Einleitung von rechtlichen Schritten.
Die Expert*innen waren sich darüber einig, dass die Dezentralisierungsreform noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden kann. Für die Vollendung der Dezentralisierungsreform und ihre Wirksamkeit sind weitere Schritte erforderlich:
- Vervollständigung der aktuellen Gesetzgebung, unter anderem des Gesetzes über die Kommunalverwaltung und der Formulierung klarer Verwaltungsverfahrensregelungen für Bürger*innen, um ihre Rechte als Gemeindemitglieder zu stärken;
- Förderung der politischen Kultur und des politischen Engagements der Bürger*innen, Aufklärungsarbeit über ihre Rechte und Instrumente der lokalen Demokratie unter Einbezug von Schüler*innen und Studierenden;
- Unterstützung der „neuen Gesichter“ in der Lokalpolitik durch Seminare, Fortbildungen und Ähnliches.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Dezentralisierungsprozess erhebliche Fortschritte erreicht wurden – und dies trotz der Bemühungen der alten politischen Clans vor Ort sowie der Zentralmacht in Kyjiw, ihren Einfluss auf die Regionen beizubehalten. Nur die Stärkung der Zivilgesellschaft kann nachhaltige Veränderungen in den Regionen sichern.