Tragödie im Theater von Mariupol. Was am 16. März geschah. Ein Augen­zeugenbericht.

Aufgezeichnet von Anna Murlykina, am 24.3.2022. Aus dem Ukrainischen und Russischen von Beatrix Kersten.
Dieser Text ist ursprünglich auf der Seite des Mariupoler Nachrichtenportals 0629 erschienen.

Am 16. März warf ein russisches Kampfflugzeug eine Fliegerbombe auf das Mariupoler Theater ab. Zu diesem Zeitpunkt hatten dort an die 1200 Menschen Zuflucht vor den Bombenangriffen gesucht: Frauen, Kinder und ältere Menschen. Es ist noch immer unklar, wie viele von ihnen sich retten konnten, wie viele an diesem Morgen des Schreckens verletzt und wie viele getötet wurden.

Nach längerer Suche ist es uns gelungen, Augenzeug*innen ausfindig zu machen, die sich während des Angriffs im Keller des Theaters befanden. Nadija hatte dort zusammen mit ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn, ihrem Enkelkind und ihrer alten Mutter Schutz gesucht. Hier ist ihr Bericht:

„Wir haben in Mariupol im Bezirk Ost gewohnt. Am 25. Februar haben wir zuerst mein Enkelkind und meine Mutter in Sicherheit gebracht, dann sind auch wir anderen gegangen. Wir zogen in den 23. Mikrodistrikt der Stadt, in die Uritskohostraße 99.

Am 8. März bekamen wir schon ab den frühen Morgenstunden ‚Grüße‘ geschickt. Sehr laute Grüße. Dann explodierte etwas hinter dem Haus Nummer 111. Anschließend wurde die 111 mehrfach getroffen und auch unser Haus bekam etwas ab, unser Balkon wurde komplett abgerissen. Die neunte oder achte Etage hat es direkt erwischt. Gegen 16 Uhr kamen drei Löschzüge der Feuerwehr. Sie begannen, das Feuer zu löschen, gaben dann aber auf. Der Löschversuch scheiterte am Wassermangel, also bestanden die Feuerwehrleute darauf, Kinder und Alte zu evakuieren. Dazu fuhren Fahrzeuge vor, die ein bisschen wie Geldtransporter aussahen und eigentlich nicht für den Transport von Menschen gedacht waren, aber sie waren zumindest gepanzert. Mein Enkel und meine Mutter fuhren mit.

Mein Schwiegersohn wollte nicht weg, also beschlossen wir, in unserer Wohnung auszuharren. Alle verließen das Haus, zurück blieben nur wir und ein Nachbar aus dem 5. Stock. Es war gegen 20.30 Uhr, als ein Mann zu uns kam und sagte, dass es hier aller Wahrscheinlichkeit nach zu Kämpfen kommen würde. Das Haus würde vermutlich unter Beschuss genommen werden, wir sollten uns in Sicherheit bringen, sonst würde man nicht für unser Leben garantieren können.

Also haben meine Tochter und ich meinen Schwiegersohn schließlich doch überzeugt, dass es an der Zeit war zu gehen, und das taten wir dann auch. Gegen 21 Uhr, die Ausgangssperre hatte da schon begonnen, wurden wir zum Theater gebracht.

Unser Enkel und meine Mutter waren aber nicht dort. Meine Tochter und mein Schwiegersohn haben dann, obwohl da bereits geschossen wurde, die ganze Stadt nach ihnen abgesucht, aber sie konnten sie nirgends finden. Wie es ihnen dabei ging, kann man sich sicher unschwer vorstellen. Schließlich haben sie die beiden doch noch gefunden (aus Sicherheitsgründen nennen wir den Ort nicht, Anm. d. Red.). Sie brachten sie zu mir ins Theater, und so waren wir wieder alle zusammen.

Im Theater waren unheimlich viele Menschen. Uns hatte man in den dritten Stock des vom Haupteingang her gesehen linken Flügels gebracht. Auf allen Korridoren drängten sich Menschen. Wohin es einen verschlug, da musste man bleiben und zur Not auch im Stehen schlafen.

‚Viele Menschen‘ ist dabei noch eine krasse Untertreibung. Im Untergeschoss lagen sie wie die Heringe. Man wusste schon nicht mehr, wohin man seine Füße setzen sollte.

Die Nacht auf den 9. März, unsere erste Nacht im Theater, mussten wir tatsächlich im Stehen verbringen. Man konnte sich nirgendwo hinlegen. Es war zwar Parkett auf dem Fußboden, aber es war trotzdem kalt. Der Raum war groß und kühlte schnell aus.

Am nächsten Tag haben wir mit Hilfe von Freiwilligen angefangen, die Fenster mit Sperrholz und Brettern zu vernageln. Das würde zwar nicht gegen Detonationen schützen, aber zumindest Verletzungen durch Glassplitter wollten wir so vermeiden.

Der Aufenthalt im Theater wurde von Freiwilligen organisiert. Am Hintereingang gab es eine Feldküche, die Freiwilligen kochten dort jeden Tag. Zum Frühstück gab es heißes Wasser, wer Teebeutel bei sich hatte, konnte dann Tee trinken, die anderen tranken das heiße Wasser. Mittags kochten die Freiwilligen Eintopf. Niemand musste hungern. Zum Abendessen gab es dann wieder heißes Wasser, und sie verteilten Kekse, wenn sie welche hatten, vor allem an die Kinder.

Die Freiwilligen waren einfach großartig. Ein Mädchen, Nastenka, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, hat uns allen geholfen.

Die Lebensmittel für unsere Versorgung holten sie aus den Läden. Es ist mir unangenehm, das zu erzählen, aber so war es. Ich weiß, dass das falsch ist. Dass man das nicht darf. Und ich habe auch gleich gesagt, dass sie das lassen sollten. Aber als ich mir vor Augen geführt habe, wie viele Leben so gerettet werden können, begriff ich, dass ein Leben mehr wert ist.

Zwei Tage vor dem Bombenangriff gab es im Theater eine Zählung der Anwesenden. Danach hieß es, dass insgesamt 1200 Menschen im Gebäude seien. Aber wir glauben, dass es in Wirklichkeit mehr waren. Es wurden auch Hochschwangere aus der nahegelegenen Geburtsklinik gebracht, die zerstört worden war. Frauen, die in den Wehen lagen und junge Mütter mit ihren Babys.

Ich weiß nicht genau, wie viele von ihnen ins Theater verlegt wurden. Ich habe drei Frauen mit Säuglingen gesehen. Aber man hat sie separat untergebracht, dort, wo früher die Garderoben waren. In diesen Bereich des Theaters, den rechten Flügel, sind wir nicht gegangen. Aber ich weiß, dass nachts bei einer Frau die Wehen einsetzten.

Die Frauen wurden in die Garderoben gebracht, weil man dachte, dass es dort bequemer und wärmer wäre. Aber es sollte anders kommen …

Am Vorabend des Bombardements gelang es uns, vom dritten Stock ins Untergeschoss umzuziehen. Wir hatten uns mit einer Familie angefreundet, die Mariupol an diesem Tag verlassen wollte. Sie kamen zu uns und meinten, wir könnten ihren Platz übernehmen. Das war der einzige Weg, überhaupt noch ins Untergeschoss hineinzukommen.

So machten wir es dann auch.

Am nächsten Morgen explodierte die Bombe. Es war gegen 9.45 Uhr.

Die Menschen aus den umliegenden Häusern sahen einen hellen Blitz und einen Feuerball, dann eine Explosion. Es war eine Fliegerbombe. Sie hatte eine ungeheure Zerstörungskraft.

Sie schlug schräg ein, vom rechten Flügel her bohrte sie sich in die Hinterseite des Theaters, wo sie dann explodierte.

Alle, die vorn im Gebäude und im Untergeschoss waren, haben überlebt. Die Keller wurden zu Sowjetzeiten gebaut, mit dem Gedanken an Krieg im Hinterkopf. Sie können jeder Bombe standhalten.

Aber wer im hinteren Teil des Theaters war oder im rechten Flügel … Dort wurden alle getötet.

Die Garderoben, in denen man die Schwangeren und Gebärenden untergebracht hatte, lagen alle rechts im Gebäude. Niemand hat überlebt.

Wie viele Menschen es insgesamt waren, ist schwer zu sagen, ich weiß es wirklich nicht. Es war Morgen, die Leute standen gerade für heißes Wasser an. Vielleicht 100 Menschen standen dort Schlange. Und die Bombe flog direkt in sie hinein.

Meine Tochter und mein Schwiegersohn wollten auch gerade losgehen, um uns heißes Wasser zu holen. Mein Schwiegersohn musste aber seinen Schuh binden. Er hielt für eine Minute inne, und diese eine Minute hat den beiden das Leben gerettet. Er kniete sich hin und hantierte mit den Schnürsenkeln und dabei wurde er fortgeschleudert, so stark war die Schockwelle. Ich entschuldige mich, dass ich das so im Detail erzähle, aber meine Tochter und ich waren bis in die Unterwäsche komplett grau vom Zementstaub. Wir waren von Kopf bis Fuß damit bedeckt. Aber die Wände hielten stand.

Wir machten uns dann auf nach draußen. Alle aus dem Untergeschoss konnten das Theater verlassen. Die Ausgänge waren nicht verschüttet. Wir kamen problemlos raus.

Aber um uns herum sahen wir nur Blut und Chaos. Die Menschen waren hysterisch. Ich war selbst hysterisch. Im Keller hatte ein Junge neben uns gelegen, mit lockigem Haar, noch ganz jung. Sein Vater war in der Feldküche gewesen, wo es keine Überlebenden gab. Er verlor völlig die Nerven. Ich musste ihn packen und schütteln, ich habe ihn angebrüllt: ‚Dein Vater ist tot, also musst du leben! Du musst leben! Für ihn!‘

Tatsächlich war ich wohl wie in Trance. Ich sah ein Mädchen, wie sie Verwundete verband, und dachte, das kannst du doch auch machen, Verwundete verbinden. Ich weiß nicht, wen ich da eigentlich verbunden habe. Alles verschwimmt. Ich erinnere mich nur noch an das Bein von jemandem, die Schenkelmuskulatur war komplett abgerissen, nur ganz unten, am Knöchel, hielt noch etwas. Und es gab kein Desinfektionsmittel. Ich habe die Muskulatur am Knöchel festgeklebt.

Verbandsmaterial gab es auch nicht. Wir haben zerrissen, was gerade zur Hand war, und damit bandagiert. Ich erinnere mich, wie die Männer Decken in Streifen rissen und ich damit Arme und Beine verbunden habe. Acht Leute habe ich verbunden. Aber ich war so unvorstellbar fertig, ich erinnere mich nicht daran, wer sie waren. Ich bin eine starke Frau, aber auch mein Hirn schirmt sich ab.”

Nadija ist sich nicht sicher, wie viele Menschen an jenem schrecklichen Morgen im Mariupoler Theater zu Tode kamen.

Sie denkt, dass alle, die sich im Untergeschoss aufgehalten haben, am Leben geblieben sind, wobei es ihr schwerfällt, einzuschätzen, um wie viele Menschen es sich dabei gehandelt hat, denn in den Räumen war es immer dunkel.

Auch die, die sich im vorderen Teil des Gebäudes befunden hätten, hätten überlebt.

Alle anderen wurden ihrer Meinung nach getötet.

Nadijas Tochter Natalija traut sich genauere Angaben zu. Sie gibt an, dass an jenem Tag ungefähr 400 Menschen im Untergeschoss gewesen seien.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass um die 400 Menschen im Untergeschoss waren. Mehrere hundert waren vorne im Gebäude. Ich glaube, dass direkt durch den Einschlag der Bombe vielleicht 100 Menschen starben, all diejenigen, die in der Feldküche waren oder auf heißes Wasser warteten, auch die Freiwilligen. Alle übrigen, alle, die im rechten Flügel waren, kamen unter den Trümmern ums Leben, denn es gab niemanden, der sie herausgezogen hätte. Das waren meiner Einschätzung nach 200 Menschen, vielleicht auch mehr.

So sind diesen beiden Augenzeuginnen zufolge bei der Tragödie am 16. März im Theater von Mariupol mindestens 300 Menschen getötet worden, mutmaßlich waren es mehr. Genaueres wird sich erst sagen lassen, wenn der Schutt vollständig fortgeräumt sein wird. Wegen der weiter andauernden Kämpfe, die bis ins Stadtzentrum hineinreichen, ist das zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich.

Unter den Toten sind Schwangere und frisch entbundene Mütter mit ihren Säuglingen, die zuvor aus dem Schutzkeller der zerstörten Geburtsklinik evakuiert worden waren. Von mindestens dreien ist die Rede, vermutlich sind es mehr.

Diejenigen Menschen, die das Theater verlassen konnten, haben sich auf andere Schutzräume im Stadtgebiet verteilt (auf nähere Angaben verzichten wir auch hier aus Sicherheitsgründen).

Nadija, die uns diese Geschichte erzählt hat, hat es am darauffolgenden Tag aus Mariupol herausgeschafft:

„Wir wurden von einem Mann gerettet, der in einem der Häuser neben dem Theater wohnte. Einfach so. Er sah, wie mein Schwiegersohn vergeblich versuchte, das Auto anzulassen, und half uns. Er gab uns eine Batterie und zehn Liter Benzin. Ich weiß nicht, wer dieser Mann war. Aber er hat meine ganze Familie gerettet. Ich träume davon, nach Mariupol zurückzukehren, ihn ausfindig zu machen und ihm zu danken. Ich hoffe, er überlebt diese Hölle.”

Nadija ist heute in Sicherheit und befindet sich auf freiem, von der Ukraine kontrolliertem Gebiet.

„Meine Familie und ich haben alles verloren. Aber darum tut es mir nicht leid. Jetzt weiß ich ganz sicher, dass das Wichtigste im Leben das Leben selbst ist.“

 

Anna Murlykina (Romanenko) ist Chefredakteurin des lokalen Mariupoler Nachrichtenportals 0629. Sie hat für die Kyjiwer Gespräche bereits mehrere Texte geschrieben, zuletzt zehn Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine: Wie Mariupol dem drohenden Angriffskrieg begegnet.

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