Tetiana Lopashchuk koordiniert seit 2014 die Arbeit der Kyjiwer Gespräche in der Ukraine – normalerweise von Kyjiw aus. Aufgrund des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine hält sie sich seit Anfang März in Berlin auf. Ihre persönlichen Eindrücke und die Erfahrungen des Kyjiwer Gespräche-Netzwerks in Kriegszeiten, schilderte Tetiana Lopashchuk in einer Rede bei der Veranstaltung „Leuchtturm Ukraine“ am 10. April in Berlin. Organisiert wurde die Veranstaltung unter anderem von der Allianz Ukrainischer Organisationen. Wir dokumentieren die schriftliche Fassung der Rede.
Vor acht Jahren las ich „Die Letzte der Skoropadskyjs“ – die Memoiren der Tochter des letzten Hetmans der Ukraine. In dem Buch finden sich viele Beschreibungen des aktiven sozialen und politischen Lebens der ukrainischen Diaspora im Berlin der 1920er und 1930er Jahre. Als ich das Buch im Winter 2013/2014 las, fand ich mich selbst und meine persönlichen Erfahrungen auf eine Art in diesen Schilderungen wieder. Es war der Winter des Euromaidan und ich lebte zu dieser Zeit ebenfalls in Berlin, wo mein Freundeskreis und ich uns in Arbeit gestürzt hatten, um den Geist des Euromaidan zu unterstützen und auch hier spürbar zu machen.
Beim Lesen der Memoiren beeindruckte mich ganz besonders der Teil, der von der Flucht der ukrainischen Intelligenzija vor den russischen Bolschewiken handelt. Familien wurden auseinandergerissen, mussten auf getrennten Routen fliehen, mit Schiffen und Güterzügen in fremde Länder reisen, um sich Monate später irgendwo wiederzutreffen und dann erst zu erfahren, ob alle überlebt hatten und wohlauf waren.
Mich haben diese Passagen damals sehr beeindruckt. Aber ich hätte mir damals nicht vorstellen können, selbst einmal etwas Ähnliches durchmachen zu müssen. Doch 100 Jahre nach den im Buch geschilderten Begebenheiten sind wieder Tausende, ja Millionen Ukrainer*innen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen, um sich vor der russischen Armee in Sicherheit zu bringen.
2014 bin ich in die Ukraine zurückgekehrt. Gemeinsam mit vielen anderen, die auch zurückgingen, weil sie mithelfen wollten, die Reformen umzusetzen und die Ukraine weiterzuentwickeln. Ich wollte den Teil Europas, den ich so sehr liebte und bewunderte – Deutschland – mit nach Hause nehmen, in die Ukraine. Seitdem hatte ich all die Jahre das Glück, mit den Kyjiwer Gesprächen meinen Beitrag zum Aufbau der Demokratie auf lokaler Ebene leisten zu dürfen und mithelfen zu können, Best Practices einer erfolgreichen Regierungsführung zu verankern.
Als Managerin und Projektleiterin habe ich mich bei jedem neuen Projekt, das wir entwarfen und dessen Umsetzung wir planten, gefragt, ob es wohl Erfolg haben würde und ob wir unsere langfristigen Ziele letztlich erreichen würden. Im Februar 2022 wurde mir klar, dass wir das Allerwichtigste erreicht haben: In den letzten Monaten und insbesondere Wochen vor der flächendeckenden Invasion, als die Berichte über einen möglichen Angriff immer dringlicher und besorgniserregender wurden, schrieb ich unsere Partner*innen in den östlichen und südlichen Regionen an und fragte sie, ob sie in sicherere Gebiete im Westen des Landes übersiedeln wollten. Sogar unser Kyjiwer Büro funktionierten wir um, damit es als Notunterkunft dienen konnte. Doch was geschah? Alle lehnten ab und entschieden sich, in ihren Städten, an ihren Orten zu blieben, weil sie dort mehr gebraucht würden.
"Während Botschaften und internationale Organisationen ihr Personal in Sicherheit brachten, dachten meine Partner*innen und Kolleg*innen darüber nach, wie sie sich, ihre Arbeit und die Fortschritte der letzten Jahre am besten schützen könnten. Da wusste ich, dass unsere langjährige Arbeit nicht umsonst gewesen war. Wir haben eine wundervolle Gemeinschaft geschaffen, die bereit ist, für ihre Werte und Ideale zu kämpfen, auch angesichts einer Bedrohung."
Ich möchte hier ein paar Geschichten aus dieser Gemeinschaft teilen:
Darunter ist die Geschichte eines Kollegen, der sich nach dem Schreck der ersten Kriegstage entschied, in Charkiw zu bleiben und humanitäre Hilfsgüter an Krankenhäuser und bedürftige Bürger*innen zu verteilen. Oder die Geschichte einer unserer Absolventinnen, sie ist Mitglied des Alumni-Netzwerks, die sich in einem der neu besetzten Gebiete befindet und sich vor drohender Verfolgung verstecken muss. Trotz aller Gefahren und Risiken will sie ihre Stadt nicht verlassen, weil es ihr wichtiger ist, mit ihrer freiwilligen Arbeit andere zu unterstützen.
Es ist die Geschichte unserer Partnerorganisation in Mariupol, die in den ersten drei Wochen des Kriegs mit 150 Personen rund um die Uhr im Einsatz war und so 25.000 Bewohner*innen der Stadt hat helfen können. Nach ihrer Evakuierung setzen diese Menschen ihre Arbeit aus Saporischschja oder Iwano-Frankiwsk fort.
Und die Geschichte des Teams unserer Partnerorganisation in Tscherkassy, das in den ersten Kriegstagen die Kinder aller Kolleg*innen in Sicherheit brachte, um sich ganz darauf konzentrieren zu können, den Streitkräften, den Flüchtenden und anderen Organisationen zur Seite zu stehen.
Seit Beginn der Kampfhandlungen sind etliche Kolleg*innen ins Ausland oder an sicherere Orte gegangen. Ich selbst bin wieder nach Berlin gekommen, und wie für Tausende anderer Ukrainer*innen wurde Deutschland auch für mich zu einem Zuhause auf Zeit. Wir wurden herzlich aufgenommen und werden von der deutschen Gesellschaft großartig unterstützt.
Mich macht sehr traurig, dass auch wir Ukrainer*innen heute – ähnlich wie vor 100 Jahren – nur häppchenweise erfahren, wo und unter welchen Umständen sich unsere Familien und Freunde gerade befinden.
Aber ich bin froh, dass Berlin – wie schon vor 100 Jahren – wieder ein Zufluchtsort und ein Kraftpol für Ukrainer*innen und für die ukrainisch-deutsche Zivilgesellschaft ist.
Ich würde mir sehr wünschen, dass die deutsche Regierung die Ukraine ebenso offen und kompromisslos unterstützte, wie die deutsche Gesellschaft derzeit uns Ukrainer*innen.
Ich glaube an unseren Sieg, unsere Streitkräfte und daran, dass wir bald wieder nach Hause zurückkehren können.
Slawa Ukraini!