Während Deutschland seit November im Lockdown ist, läuft in der Ukraine das öffentliche Leben auf Hochtouren – und das Gesundheitssystem hält das irgendwie durch. Dies mag erfreulich klingen, hat aber durchaus auch besorgniserregende Gründe. Getestet wird wenig, die meisten Erkrankten begeben sich bis zu einem kritischen Moment nicht in die Krankenhäuser. Die Mortalitätsstatistik vermittelt einen düsteren Eindruck. Einen monatelangen harten Lockdown könnte sich die Ukraine aber nicht leisten.
Von Denis Trubetskoy, Kyjiw
Im vergangenen Frühjahr wurde die Corona-Pandemie zum Schock für die ukrainische Regierung. Die Angst war groß, dass das Gesundheitssystem – zu dem Zeitpunkt mit nur 600 Beatmungsgeräten ausgestattet – sehr schnell an seine Grenzen kommen könnte. 37,3 Millionen Menschen leben auf dem von Kyjiw kontrollierten Gebiet, die von Russland okkupierte Krim und die besetzten Teile des Donbas nicht mitgerechnet.
Die Ukraine gehörte zu den ersten osteuropäischen Ländern, die Mitte März einen harten Lockdown verhängten. Sogar der öffentliche Nah- und Fernverkehr musste landesweit seinen Betrieb einstellen für all diejenigen, die keinem systemrelevanten Beruf nachgingen. Dies wirkte sogar im Vergleich zu Westeuropa, wo etwa Busse und Züge in den Städten meist durchgehend fuhren, sehr streng.
Seitdem galt auch nach der Aufhebung des Lockdowns unverändert die Maskenpflicht in öffentlichen Gebäuden sowie im öffentlichen Verkehr. Bars und Restaurants mussten zudem spätestens um 22 Uhr schließen. Davon abgesehen lockerte sich der gesellschaftliche Umgang mit Corona allerdings schnell, was womöglich daran liegt, dass die erste Welle im Frühjahr so gut wie ausblieb.
Zum einen zeigten die harten Maßnahmen ihre Wirkung, zum anderen wurde kaum getestet, weswegen kein realistisches Bild der Epidemie-Lage im Land vorlag. Doch selbst als die Ukraine im Spätherbst tatsächlich mit stark steigenden Infektionszahlen konfrontiert wurde, blieb die Regierung im Gegensatz zum Frühjahr sehr zurückhaltend. Die Lokalwahlen, die am 25. Oktober 2020 in der Ukraine stattfanden, sorgten womöglich zusätzlich dafür, dass auf unpopuläre politische Entscheidungen wie die Schließung von Schulen und Kitas oder der Gastronomie verzichtet wurde.
Zwar wurde im Gesundheitsministerium zunächst stets betont, dass ein neuer Lockdown etwa im Dezember unvermeidbar sei. Tatsächlich aber reagierte die Regierung auf die Zahlen wie den bisherigen Rekordtageswert von 16 294 neuen Fällen bei lediglich 43 000 durchgeführten PCR-Tests am 28. November 2020 mit zwei umstrittenen „Halbmaßnahmen“.
Erstens wurde Mitte November für drei Wochen der sogenannte „Wochenende-Lockdown“ verhängt, der im Grunde bedeutete, dass Einkaufszentren und Restaurants samstags und sonntags schließen mussten. Am katholischen sowie am orthodoxen Weihnachtsfest und an Neujahr, welches für viele das wichtigste Winterfest in der Ukraine darstellt, ließ man dagegen fast alles offen. Damit wollte die Regierung den Gastronomen ermöglichen, mit traditionellen Firmenfeiern vor Neujahr ihren in der Regel größten Umsatz für das gesamte Jahr zu machen. Sonst wäre das Fortbestehen vieler Lokale gefährdet gewesen.
Direkt nach dem orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar ging das Land jedoch in einen neuen zweiwöchigen Lockdown, der diesmal etwas weniger restriktiv ausfiel – so hatte der ÖPNV zum Beispiel im Vergleich zum Frühjahr offen. Außerdem durften Skigebiete in der Westukraine während der Hochsaison arbeiten. Doch was auf den ersten Blick überhaupt keinen Sinn machte, könnte vermutlich zumindest teilweise ein durchdachtes Kalkül gewesen sein.
Die meisten Tests sind kostenpflichtig
Grundsätzlich wollte die Regierung offenbar, dass die Menschen, die sich rund um Neujahr möglicherweise gegenseitig angesteckt haben, zwei Wochen als eine Art „Inkubationszeit“ durch den Lockdown zum Großteil zu Hause bleiben, damit man einen großen Anstieg an Neuinfektionen vermeidet und gleichzeitig die Wirtschaft schont. Denn die Möglichkeit, die Wirtschaft genauso wie in Deutschland zu unterstützen, hat die Ukraine schlicht nicht.
Als das Gesundheitsministerium dank sinkender Neuinfektionen öffentlich den vorläufigen Erfolg des Wochenende-Lockdowns feierte, wurde dies meist skeptisch betrachtet. Aufgrund der niedrigen Anzahl von Tests (inzwischen rund 40 000 PCR-Tests pro Tag an Arbeitstagen – Anmerkung des Autors) ist diese geradlinige Statistik ohnehin kaum vertrauenswürdig. Zusätzlich können nur Patient*innen mit Symptomen kostenlos getestet werden, andere Verdachtsfälle sind auf private Kliniken und Labore angewiesen. Die Krankenhauseinweisungen und Todesfälle stiegen noch eine Weile lang.
Am Rekordtag, dem 11. Dezember, waren es 297 Tote. Insgesamt ist die offizielle Mortalitätsstatistik zwischen Januar und November 2020 nur um 2,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Bei genauerem Hinsehen zeigen die Herbst- und Wintermonate aber eine erschreckende Entwicklung: Im September 2020 starben in der Ukraine 15 Prozent mehr Menschen als gewöhnlich im gleichen Monat in den vergangenen fünf Jahren. Im Oktober stieg die Zahl der Todesfälle um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Im November vergangenen Jahres ist diese Zahl im Vergleich zum November 2019 noch weiter gestiegen – auf 35 Prozent. Für die Monaten Dezember, Januar und Februar fehlen noch die Daten. Den Anstieg der Sterblichkeit führen die Expert*innen allerdings nicht nur auf das Coronavirus zurück, sondern auch auf die Tatsache, dass immer mehr Patient*innen mit chronischen oder anderen akuten Erkrankungen wegen der Pandemie-Situation nicht rechtzeitig behandelt werden. Insgesamt sind 24 852 Menschen offiziell an Folgen einer SARS-CoV-2 Infektion gestorben (Stand: 18. Februar 2021).
Nähert sich die Ukraine an eine "Herdenimmunität"?
Was die Neuinfektionen betrifft, bleibt die Zahl laut offizieller Statistik seit Dezember durchaus stabil (Am 18. Februar: 6237 neue positiv Getestete). Auch die landesweite „Corona-Party” zum Neujahr konnte die Daten nicht signifikant verändern. Stand 10. Februar liegt die durchschnittliche Belegung von Krankenhausbetten bei 26,6 Prozent. Nur in den westukrainischen Gebieten Iwano-Frankiwsk und Sakarpattja liegt dieser Wert offiziellen Angaben zufolge bei über 50 Prozent. Aussagekräftiger ist hier der Anteil von positiven Tests: Im Dezember lag dieser noch bei 30 Prozent, im Januar ging er auf 24,5 Prozent zurück – und im Februar liegt er bisher bei rund 17,4 Prozent.
Doch wie kann das überhaupt sein, während das alltägliche Leben fast ohne Veränderungen fortläuft und sogar die Clubs aufhaben? Spekuliert wird unter anderem darüber, dass die Ukraine sich als eines der ersten Länder weltweit an die sogenannte Herdenimmunität annähert. Belegt wird diese These unter anderem durch die Daten des europäischen Labornetzes Synevo, die in der Ukraine breit vertreten ist und zwischen Mai 2020 und Januar 2021 eigene Statistiken gesammelt und systematisiert hatte. Demnach hätten nun 52 Prozent der Kunden bereits Antikörper, während es im Oktober letzten Jahres 33 Prozent und im Juli erst neun Prozent waren. „Die Ukraine nähert sich der Entstehung der kollektiven Immunität gegen Covid-19”, meinte auch der Synevo-Vertreter Mykola Butenko.
Nun sind die Daten eines Privatlabors per se kaum auf das gesamte Land übertragbar – und derzeit gibt es keine Studien, die in Sachen Antikörper ein objektives Bild zeichnen könnten. Klar ist allerdings auch, dass die offizielle Statistik deutlich unter der Realität liegt. Diese deutet nämlich an, dass nur drei Prozent der Ukrainer bisher Corona hatten. Eine objektive Einschätzung ist in dieser Frage deswegen schwierig, weil ein großer Teil der Ukrainer*innen sich schlicht nicht testen lässt. Bei eindeutigen Symptomen wie Geschmacks- und/oder Geruchsverlust oder bei aufkommenden Erkältungssymptomen nach engem Kontakt mit einem bestätigten Fall bleiben tendenziell immer mehr Menschen einfach zu Hause, ohne einen Test zu machen. Offiziell wäre auch eine Quarantäne für Kontaktpersonen nach wie vor Pflicht. De facto werden Kontakte gar nicht mehr verfolgt.
„Im Vergleich zur EU waren bei uns viel mehr Menschen krank. Die offizielle Statistik muss mindestens verfünffacht werden“, fasst Taras Schyrawezkyj, Chefarzt eines diagnostischen Zentrums im westukrainischen Lwiw, gegenüber dem Sender 1+1 Mitte Februar zusammen.
Mehr Beatmungsgeräte als im Frühling
„Tatsächlich könnten 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung Corona gehabt haben. Für eine Herdenimmunität reicht das nicht aus. Doch damit kann sich das Virus langsamer in der Bevölkerung ausbreiten.“ Eine mathematische Modellierung der Kyiv School of Economics ebenfalls von Mitte Februar kommt dagegen zu einem anderen Ergebnis: Maximal bis zu 20 Prozent der Ukrainer*innen waren demnach bisher erkrankt. In Sachen Herdenimmunität wird außerdem in den Medien darüber diskutiert, ob diese zumindest in einigen Gegenden in der Westukraine, die seit Frühjahr durchgehend zu Hotspots zählten, nicht bereits erreicht sei.
Eine andere Frage ist, wie die Ukraine einen Kollaps des schwach aufgestellten Gesundheitssystems vermeiden konnte, obwohl sich im Herbst Berichte mehrten, wonach es ein größeres Sauerstoff-Defizit in den Regionen gäbe. In unterschiedlichen Ecken des Landes ging den Krankenhäusern aufgrund der wachsenden Patientenzahl der Sauerstoff aus, während die Lieferanten von Fabriken abhängig waren, die keine zusätzlichen Kapazitäten hätten.
Einerseits wurde das Lieferproblem zum Teil gelöst. Andererseits hat sich die Lage zumindest in Sachen Beatmungsgeräte ohnehin deutlich verbessert. Bereits im Herbst standen dem Land rund 5000 davon zur Verfügung. Eine große Rolle spielte hier jedoch weniger der Staat als vielmehr Oligarchen wie Rinat Achmetow, die solche Geräte massenhaft eingekauft und durch ihre gemeinnützigen Stiftungen verteilt haben.
Die Lebenserwartung ist niedriger als in Deutschland
Der eigentliche Grund dafür, dass das System nicht zusammengebrochen ist, dürfte jedoch woanders liegen. Obwohl die Medizin in der Ukraine immer noch teilweise kostenlos bleibt, wollen sich viele Ukrainer*innen nicht bei den Ärzt*innen melden, weil zusätzliche Kosten meist unvermeidbar sind. So wenden sich viele Patient*innen erst im letzten Moment an die Krankenhäuser, was wiederum öfters tragisch endet. Dadurch sinkt die Belastung der Krankenhäuser.
Offenbar ist der demografische Faktor zumindest mitentscheidend. In der Ukraine beträgt die Lebenserwartung Angaben der UN zufolge 72,1 Jahre, während es in Deutschland 81,3 Jahre sind. So leben in der Ukraine Stand 2018 22 000 Senioren in legalen Altenheimen. Durch die Existenz von vielen illegalen Altenheimen ist die tatsächliche Zahl höher, sie kommt aber sicher nicht mal in die Nähe der deutschen Statistik mit über 700 000 in den Altenheimen wohnenden Senioren. Die Ausbrüche in solchen Einrichtungen bilden den größten Teil der schweren Fälle in Westeuropa.
Wie sieht es mit dem Impfen aus?
Die Beschaffung der Impfstoffe bleibt für die ukrainische Regierung ein kompliziertes Unterfangen. Noch im Februar wollte das Land mit Impfungen beginnen, vorerst ging es nur um 117 000 Dosen des Pfizer/Biotech-Impfstoffes, die durch die globale Impf-Allianz COVAX verteilt werden sollten. Doch der Impfstoff sei wegen „bürokratischer Probleme“ noch nicht in der Ukraine angekommen, wie der ukrainische Gesundheitsminister Maksym Stepanow mitteilte.
Insgesamt dürfte die Ukraine acht Millionen Dosen von COVAX bekommen, doch dies liegt noch in weiter Ferne. Vor Kurzem wurden zudem die Lieferungen von zwölf Millionen Dosen der Vakzine von AstraZeneca und Novavax angekündigt, die Verträge dafür sind jedoch noch nicht abgeschlossen. Im ersten Halbjahr könnte die Ukraine allerdings laut EU‑Außenbeautragten Josep Borrell zwischen 2,2 und 3,7 Millionen Dosen des britischen AstraZeneca-Impfstoffes erhalten.
Darüber hinaus sieht es aber im ersten Schritt schlecht aus. Abgesehen von den 1,9 Millionen gesicherten Dosen der noch nicht zugelassenen Sinovac-Vakzine hat das offizielle Kyjiw nur wenige vertraglich gesicherte Lieferungszusagen. Daher ist es unklar, ob die Ukraine das Anfang Februar von Präsident Wolodymyr Selenskyj angesprochene Ziel, bis Anfang 2022 statt bis Ende 2022 die Mehrheit der Bürger*innen geimpft zu haben, wirklich erreichen kann.
Hinzu kommt die grundsätzliche Impfskepsis der Ukrainer*innen. Nach Angaben des soziologischen Instituts Rating Group waren im Januar 2021 43 Prozent der Menschen bereit, sich kostenlos impfen zu lassen. 52 Prozent erklärten, sie seien nicht bereit. Im November 2020 zeigten noch 55 Prozent Interesse an einer kostenlosen Impfung. Wie eine Recherche der NGO „Public Interest Journalism Lab“ zeigte, rührt die Impfskepsis nicht in erster Linie daher, dass die Bevölkerung Verschwörungstheorien anhängt oder Opfer von Desinformation ist. Viele möchten eher nicht darauf vertrauen, dass die Regierung qualitativ guten Impfstoff beschafft. Auch dass die durchgehende Kühlung, die bei einigen Präparaten notwendig ist, gewährleistet werden kann, wird oft bezweifelt. Zum Thema Nebenwirkungen findet man nicht genug verlässliche Informationen in den Medien.
Die Mutationen sind noch kein Thema
Auch in Bezug auf die Maßnahmen herrscht Skepsis. Selbst ein Drittel derjenigen 40 Prozent, die den Januar-Lockdown unterstützt haben, hielt diesen für eigentlich nicht effektiv. Die Angst vor einer Infektion ist ebenfalls gesunken. Im November äußerten noch 57 Prozent der Befragten Angst vor einer Corona-Erkrankung, im Januar waren es nur noch 40 Prozent.
Die Soziolog*innen erklären das dadurch, dass es – anders als in Deutschland – nur wenige Menschen gibt, deren Umfeld keine persönliche Erfahrung mit Corona hatte. So geht die Angst natürlicherweise etwas zurück, was die Regierung nun womöglich politisch nutzt, um die schwächelnde Wirtschaft am Laufen zu halten. Denn einen erneuten monatelangen Lockdown wie in Deutschland wird die Ukraine wirtschaftlich kaum durchstehen. Die neuen Mutationen von SARS-CoV-2 sind dabei im öffentlichen Diskurs noch nicht präsent – vor allem, weil es in der Ukraine noch keine Möglichkeit gibt, sie labortechnisch nachzuweisen.
Weitere Statistiken und Informationen zum Thema Covid-19 in der Ukraine finden sie bei den Ukraine Analysen.