Vom Punk Rock bis zur Zivil­gesellschaft: Wie das Festival „Fajne Misto” zur Entwicklung der Region Ternopil beiträgt

 

Im Jahr 2021 sind die Kyjiwer Gespräche in fünf Regionen der Ukraine aktiv: Poltawa, Ternopil, Wolyn, Saporischschja und Winnyzja. Im Rahmen unserer Reportagen-Serie "Was die Region bewegt" berichten wir von interessanten Entwicklungen vor Ort.

Tausende Menschen besuchen jeden Sommer das Festival „Fajne Misto” in Ternopil, um gemeinsam zu tanzen und Spaß zu haben. Unsere Autorin denkt aber, dass es ihnen dabei nicht nur um das Freizeitvergnügen geht. Vielmehr gehe es auch um den Wunsch, zumindest ein paar Tage lang Teil einer freien und solidarischen Gesellschaft zu sein.

Von Ljuba Wowk, Ternopil. Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.

Zehn Kilometer außerhalb von Ternopil findet auf dem riesigen Gelände des Hippodroms bereits seit mehreren Jahren das größte internationale Musikfestival der Westukraine statt – „Fajne Misto” – auf Deutsch etwa „coole Stadt”. Das Wort Stadt im Festivalnamen ist wörtlich zu nehmen. Das Gelände ist wie eine Stadt strukturiert, mit der entsprechenden Infrastruktur, Bezirken, Vierteln und Ausweisen für die Bewohner*innen.

Für fünf Tage reisen Tausende von Besucher*innen aus der ganzen Ukraine, aber auch aus dem Ausland an. Im Strom der städtischen Passant*innen erkennt man sie schnell an ihren großen Rucksäcken und ihren Isomatten, aber auch an ihren originellen Frisuren, knalligen Flechten, auffälligen Kleidern und den vielen ledernen Armbändern. Oft haben sie auch Zelte oder Gitarren dabei.

Auf dem Weg von den Festival-Shuttlebussen sieht man einen Menschenstrom über die staubige Piste zwischen den Mais- und Weizenfeldern zum Eingang des Festivalgeländes ziehen. Hier sind schon die Bässe und der Beat des Schlagzeugs zu hören, denn auf einer der Bühnen hat das Programm bereits begonnen.

Sieben Bühnen gibt es insgesamt, auf sechs davon wird Musik gespielt, eine ist der Kunst vorbehalten. Hinzu kommen 30 weitere Unterhaltungs- und Lernorte. Auch der Sport ist vertreten. 2020 konnte das Festival pandemiebedingt nicht stattfinden, doch im Sommer 2021 war die Region Ternopil eine der sogenannten grünen Zonen, weshalb auch für das Festival grünes Licht gegeben werden konnte. Die Bewohner*innen des Festivalzeltlagers bastelten eine Pandemie-Vogelscheuche und verbrannten diese spielerisch. Darüber hinaus hinterließ die Pandemie in diesem Jahr kaum sichtbare Spuren, es gab weder eine Maskenpflicht noch eine Teststrategie.


Freiheit ist das Motto. Foto: Serhij His


Anwälte im Schlafanzug treffen

„Fajne Misto” ist eine echte Miniatur-Metropole. Das Gelände unterteilt sich in Bezirke für Unterhaltung, Einkauf, Geschäfte und Wohnen. Es gibt eine komplexe Infrastruktur, alle lebensnotwendigen Dienstleistungen und verschiedene Viertel. Sogar Ausweise für die Festivalgänger*innen mit einer Staatsbürgerschaft als „cooler Mensch” gibt es, ja sogar eine eigene Verfassung.

Rostyslav Yatskiv, Experte vom Touristeninformationszentrum von Ternopil:

„Das siebte Jahr in Folge kommen nun Menschen in die Region Ternopil, die tief in eine ganz bestimmte kulturelle Sphäre eintauchen möchten. Jede Location auf dem Festival hat ihre eigene thematische und kulturelle Schwerpunktsetzung und Ausgestaltung.

Die Besucher*innen interessieren sich für das gesellschaftliche Leben und für Formen der Selbstorganisation, und hier finden sie dafür einen sicheren Hafen, in dem sie sich absolut frei fühlen können. Es kann zum Beispiel sein, dass jemand im Schlafanzug an dem Festival teilnimmt, während er im normalen Leben ein angesehener Anwalt ist. Auf dem Festival spielt es keine Rolle, wer man sonst ist, aus welchem Land man kommt oder welche Musik man hört.

„Territorium der freien Menschen” – lautet seit 2015 der Slogan des Festivals. Für mich sind das nicht nur Worte. Hier kann man wirklich für ein paar Tage einfach nur Mensch sein, unbeschwert vom Alltag. Normalerweise gehe ich arbeiten, wohne in einem Gebäude, habe Pflichten im Haushalt, denen ich jeden Tag nachkommen muss. Auf dem Festival dagegen bin ich frei, alles zu tun, solange es keine sozialen Normen verletzt. Das bringt einen zu einer Form des Loslassens, des Begreifens und Sich-Einfühlens in die Umgebung. Einer kommt hierher als Rocker, die andere als Pikachu verkleidet, aber es gibt keine Konflikte zwischen ihnen, keine Aggression, sondern Kommunikation, einen Austausch von Werten und Ansichten. Auf dem „Territorium der freien Menschen” stiften gemeinsame Interessen eine Verbindung, durch die man dann ein echtes Interesse aneinander findet."

Schlangen gibt es hier auch. Foto: Serhij His


Verschiedene Bezirke

Die Hauptbühne liegt im größten Bezirk und wird täglich bespielt. Abends tobt dort das musikalische Leben. Zu den Auftritten bekannter Bands aus der Ukraine und dem Ausland kommen alle Bürger*innen der Festivalstadt aus ihren Bezirken zusammen und verschmelzen zu einem See aus Musik, Motivation, Gesang, Tanz und Emotionen.

Inmitten des „Intellektuellenbezirks“ der Festivalstadt, der „Cambridge” genannt wird, liegt das Amphitheater. Es ist zwar nicht aus Stein, sondern nur ein temporärer Bau aus Holzplanken, doch führt hier die Kunst Regie – vertreten durch namhafte Schriftsteller*innen und Kulturaktivist*innen. Geboten werden Buchpräsentationen, Filmvorführungen, Vorträge und Meisterklassen. In diesem Jahr kam mit der Stand-up-Comedy eine ganz neue Form hinzu.

Kurator des literarisch-intellektuellen Bezirks ist Yuriy Matewoschtschuk, der auch Mitorganisator des Kunstfestivals „Ji” ist, das jedes Jahr Hunderte von Besucher*innen ins Theater im Zentrum Ternopils führt:

„Von Hundert Befragten, die hier das Amphitheater besuchen, waren nur ganz wenige zuvor bei „Ji”. Das zeigt deutlich, dass die beiden Veranstaltungen ein unterschiedliches Publikum ansprechen. Die Inhalte sind auch ganz verschieden. Während „Ji” sich seriösen Formaten widmet, geht es bei „Fajne Misto” vor allem um Unterhaltung. Sogar die Vorträge hier stehen im Zeichen eines leichten Zugangs zu Inhalten. Zum Beispiel „Wie dreht man einen Film mit dem Handy?”.

Auf dem Open-Air-Festival fühlen sich die Leute freier, man kann also andere Themen auf die Bühne bringen und das Ganze auch mal mit leicht grenzwertigen Witzen aufpeppen. Das wäre bei „Ji” unmöglich.

Ein großer Erfolg sind auch unsere nächtlichen Kinovorführungen. Als uns dieses Jahr am Festivalende ein heftiger Regenguss die Show vermasselte, haben das viele bedauert. Die Nachfrage nach Kultur und Kunst ist in unserer Region groß. Zwischen dem seriösen Festival in der Stadt und dem Open-Air-Musikfestival ergibt sich eine schöne Balance.”


Yuriy Matewoschtschuk im Amphitheater, Mitorganisator des Kunstfestivals „Ji”. Foto: Serhij His


Negative Gefühle abbauen? Schlag auf ein Auto ein!

Eine ganz andere Atmosphäre hingegen herrscht in einem anderen Bezirk, der Industriegebiet genannt wird. Dort, wo einem rostige Eisenteile und verstreute alte Reifen ins Auge springen, können die Bewohner*innen sich einfach einen Stock oder einen Vorschlaghammer nehmen und ihre negativen Emotionen an den eigens zu diesem Zweck zur Verfügung gestellten, auf dem Kopf stehenden Autowracks auslassen. Gern lassen sich junge Frauen mit siegesgewissem Gesichtsausdruck auf diesen Wracks für Instagram ablichten.

Auf der sogenannten „Dark Stage” präsentieren die Organisator*innen Bands aus dem Hardrock- und Heavy-Metal-Spektrum. Daran grenzt das Viertel der Biker und Autocamper an.

Vor der Bühne steht ein ausrangierter Oberleitungsbus, auf den man heraufklettern kann, um das Fahrzeug dann passend zu den Beats ins Schaukeln zu bringen. Festivalgänger*innen lieben dieses Spektakel. Die Fans hier sind meist ganz in Schwarz unterwegs, haben Irokesenschnitte oder tragen Kleidung und Frisuren im Gothic-Stil. Doch auch hier sind die Leute höflich und freundlich zueinander, viele haben kleine Kinder dabei. Einige tanzen wild, andere nicken einfach nur im Takt mit dem Kopf.

Dmytro aus Mykolajiw meint:

„Meine Frau und ich sind zum zweiten Mal angereist, wir finden es richtig super hier. Ich habe ukrainische Musik schon immer geliebt und die Bands im diesjährigen Programm von „Fajne Misto” kenne ich alle gut. Da ich im Bildungswesen tätig bin, ist es für mich auch interessant, dass hier so viele ganz verschiedene Jugendliche zusammenkommen und ich einen Einblick in deren Leben erhalte. Für mich gehört auch das auch zu meinen beruflichen Aufgaben.”

Dmytro aus Mykolajiw im Gespräch mit unserer Autorin. Foto: Serhij His


Ein Fest auch für Menschen mit Behinderung

In diesem Jahr haben über 250 Menschen mit einer Behinderung „Fajne Misto” besucht. Das sind etwa Hundert mehr als vor zwei Jahren. Der Festivalorganisation ist es ein Anliegen, dass bei „Fajne Misto” alle auf ihre Kosten kommen.

Nazariy Verbovetsky, Terebowlia, Region Ternopil:

„Ich bin zum zweiten Mal auf dem Festival. Ich konnte mit einem speziell ausgerüsteten Sozialtaxi aus Terebowlja (Anm. der Redaktion: с. 40 Kilometer entfernt) anreisen. Ich komme wegen der Atmosphäre her. 2019 war ich schon mal hier und es hat mir unheimlich gut gefallen. Mir fehlt es hier an nichts. Es macht viel Spaß – ein wunderbares Erlebnis. Die Atmosphäre, der Austausch und die vielen neuen Leute, die man kennenlernt, das ist schon eine tolle Sache. Außerdem treffe ich hier Bekannte, die ich seit Jahren nicht gesehen habe.”


Das Festival ist auch für Rollstuhlfahrer*innen geeignet. Foto: Serhij His


Auch die Zelte des Wissenschaftszentrums Ternopil sind bei den Festivalgänger*innen sehr gefragt. Erwachsene wie Kinder staunen gleichermaßen über die dort vorgeführten Experimente.

Inna Onys’kiv, freiwillige Helferin und Mitglied der Bürgerinitiative „Wissenschaftszentrum Ternopil”:

„Wir zeigen Sehenswertes aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen. Wir haben ein Mikroskop, machen Cocktails mit Trockeneis und haben diverse Wissenschaftsshows auf Lager, außerdem einen Endlosbrunnen, eine singende Tasse und Kegelschneckenhäuser. Die Ausstellungsstücke für Erwachsene befassen sich etwa mit dem Satz des Pythagoras oder dem Maxwell’schen Pendel. Wir wollen hier wirklich die Werbetrommel für die Naturwissenschaften rühren. Viele denken ja, das sei nur etwas für Eingeweihte aus ganz bestimmten Kreisen – etwa Chemiker*innen, Biolog*innen oder Mathematiker*innen. Aber tatsächlich sind Naturwissenschaften simpel und für jeden zugänglich. Wenn man die Experimente einfach erklären und niedrigschwellig präsentieren kann, werden Naturwissenschaften plötzlich zu etwas Faszinierendem und Überraschendem.”

Beinahe 17.000 Menschen besuchten im Sommer 2021 (28.7.-1.8.) das Festival. Die Veranstaltung ist nicht nur ein Leuchtturm in den Bereichen Kultur und Unterhaltung vor Ort, sondern auch immens wichtig für die Zivilgesellschaft in Ternopil. Immerhin ist das Festival so etwas wie ein alternativer Gesellschaftsentwurf, wenngleich er nur wenige Tage im Jahr in die Praxis umgesetzt wird. Ob jemand Hilfe braucht, der bis auf die Knochen durchnässt ist, sich eine Rollstuhlfahrerin im Gras festgefahren hat, man sein Abendessen mit einem hungrigen Mitbesucher teilt oder wieder einmal seine Powerbank verleiht – hier gehen die Menschen miteinander um, wie gute Nachbar*innen in einem Hochhaus.

Besonders wertvoll macht „Fajne Misto”, dass hier Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen und Ansichten zusammenkommen. Haben sie hier Bekanntschaft geschlossen und sind anschließend miteinander in Kontakt geblieben, ergibt sich vielleicht anderswo einmal ein gemeinsames Projekt. Im Grunde genommen ist jede*r Besucher*in hier auch freiwillige*r Helfer*in. Diese Hilfe trägt und unterstützt das Festival in seiner Existenz nun schon über sieben Jahre lang. Viele Menschen hier leiten eigene Freiwilligenorganisationen, veranstalten selber Festivals oder organisieren Veranstaltungen mit einer großen Reichweite.

Das Festival macht die Region nicht nur touristisch interessant, es liefert ihr auch Impulse für eine zivilgesellschaftliche Entwicklung. Immerhin kann man hier lernen, wie man miteinander umgeht und gemeinsam etwas entstehen lässt. Vielleicht kehren ja so manche Besucher*innen erfüllt von der Lust an der Freiheit in ihren eigenen Alltag zurück und werden so an ihren Wohnorten zu Multiplikator*innen für die Prinzipien einer freien und solidarischen Gesellschaft.

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