WAS PASSIERT, WENN MAN WAS MACHT (wo vorher keiner was gemacht hat)

Fotos: Steve Naumann

UKRAINISCHE AKTIVISTINNEN BERICHTEN

Eine graue Straße, schiefe Pflastersteine, unsanierte Häuser, viel Verkehr und kein Grün. Diese Ausgangslage wollten einige AnwohnerInnen ändern und wandten sich mit einem Vorschlag an die Stadtverwaltung. Ohne große Investitionen könne man die Lebensqualität der Straße deutlich verbessern, indem man nur ein paar Bäume pflanze. Die Stadtverwaltung reagierte nicht. Die AnwohnerInnen wurden daher selbst tätig – sie starteten eine Crowdfunding-Kampagne, sammelten Geld, kauften Bäume und renovierten nebenbei noch Bänke und die Straßenbahnhaltestelle und feierten ihren Sieg auf einem Nachbarschaftsfestival. Dort war das große Thema, wie die Straße und das Leben in der Nachbarschaft weiter verbessert werden könnte – der Start einer zivilgesellschaftlichen Initiative.

Ungefähr so funktioniert die ukrainische Gesellschaft. Natürlich nicht immer, aber seit 2014 immer öfter. Da, wo staatliche Institutionen ihre Aufgaben aus verschiedenen Gründen nicht ausführen, finden sich aktive Menschen, die diese Aufgaben in den Bereichen Stadtentwicklung, Wirtschaft oder Kultur einfach übernehmen.

Am 13. und 14. November kamen vier UkrainerInnen auf Einladung der KIEWER GESPRÄCHE nach Deutschland und sprachen an der Hochschule Zittau/Görlitz über ihre Erfahrungen beim zivilgesellschaftlichem Engagement. Natalia Yeryomenko, Andrey Palash, Olena Sablina und Yaroslav Minkin haben alle bereits mehrere Projekte im Bereich Erinnerungskultur, Stadtentwicklung, Kulturpolitik und Jugendarbeit durchgeführt und wissen nur zu gut, was es bedeutet, in der Ukraine aktiv zu werden.

Andrey leitet ein Projekt, in dem es um einen Raum geht, der den EinwohnerInnen der Stadt Dnipro zur Verfügung steht, um dort ihre Ideen umsetzen zu können – eine offene Bühne in einem Park. Diese Bühne haben AktivistInnen selbst gebaut. Das nötige Geld wurde  durch Crowdfunding gesammelt und stellt damit die Unabhängigkeit der Bühne sicher.

In einer Gesellschaft mit einem niedrigen Vertrauensniveau sei es wichtig von Anfang an klare Regeln zu setzen und Rollen eindeutig zu verteilen, da ist sich Andrey sicher. Er findet auch den häufig zu hörenden Begriff „partizipativ“ nicht ganz passend, wenn es um seine Projekte geht. Zu oft hat er erlebt, dass Projekte von Außen nur so deklariert werden, weil es schick ist oder Förderrichtlinien das vorgeben und letztlich doch keine echte Mitwirkung auf lokaler Ebene mehr stattfindet, weil die gewünschten Ergebnisse schon lange beschlossen wurden. Statt von „partizipativen Projekten“ zu sprechen, sieht Andrey daher „Сцена : Stage“ als eine neue Gemeinschaftspraktik, wo alle gleiche Rechte und Möglichkeiten der Mitwirkung haben.

Für diese Herangehensweise und für die architektonische Umsetzung wurde „Сцена : Stage“ 2018 im Rahmen des European Prize For Urban Public Space ausgezeichnet. Außerdem wurde sie für den Preis der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur (Mies Award) nominiert.

Auch Natalia nutzt Kultur im Stadtraum, um lokale Gemeinschaften zu entwickeln. In westukrainischen Chernivtsi versucht sie mit ihren FreundInnen die komplizierte Geschichte der Stadt neu zu denken. Natalias Organisation „Roșa Collective“ greift mit  künstlerischen Interventionen in den Stadtraum ein und öffnet verlassene oder geschlossene Räume, um diese neu zu beleben. Bei ihrer Tätigkeit ist es ihr wichtig, dass die aktiven Ehrenamtlichen sich bei ihrem Engagement wohl fühlen können und der eigenen Idee treu bleiben. Diesen Anspruch mit partizipativen Elementen zu verbinden ist natürlich eine Herausforderung. Denn Natalia hat selbst gesehen, dass es in partizipativen Projekten oft zur Konfrontation zwischen den Ideen der AktivistInnen und den Wünschen der AnwohnerInnen kommt. Als es ihr etwa darum ging, an die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Chernivtsi zu erinnern und die AnwohnerInnen des ehemaligen Ghettos sich dagegen einen Spielplatz statt einer Gedenkstätte wünschten. Sich hier nicht zu verbiegen ist für Natalia wichtig – man darf die Konfrontation nicht scheuen, sondern sollte auch neue Ideen gesellschaftlich erproben.

Genau dieses gesellschaftliche Erproben kann in der Ukraine häufiger als in Deutschland zu Problemen führen – besonders wenn Beamte und Politiker sich einmischen. Natalia und ihre Organisation hat viele positive Erfahrungen gemacht und erlebt, dass die Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Stadtverwaltungen oder Stadtrat gut funktionieren kann. Etwas anders ist es bei Olena als Leiterin eines Jugendzentrums in der kleinen Stadt Pervomaisk in der Südukraine. Die Idee des Jugendzentrums kam von unten, von den EinwohnerInnen der Stadt. Olena nahm sich dieser Idee an und fand zusammen mit interessierten Jugendlichen einen passenden Raum, den sie dann gemeinsam renovierten. Heute finden zahlreiche Veranstaltungen im Jugendzentrum statt und es ist wohl der einzige Ort in Pervomaisk, wo junge Menschen sich „unter sich“ treffen und eigene Ideen entwickeln können. Genau damit scheinen allerdings einige lokale Politiker Probleme zu haben, denn der Stadtrat will den Mietvertrag für den Raum nicht verlängern. Olena sagt, dass so etwas in der Ukraine leider sehr oft passiere und freie Jugendzentren oder andere zivilgesellschaftliche Projekte oft zum Zankapfel der Lokalpolitik werden. Um sich gegen Ansprüche aus der Politik zu wehren, ist man also gezwungen selbst politisch aktiv zu werden – ob man das will oder nicht. Selbst kleine Projekte müssen sich also eine Lobby organisieren oder auf die Straße gehen und protestieren.

Zum Thema Protest und Kultur kann kaum jemand mehr sagen als Yaroslav. Der junge Mann kommt von der Krim, hat in Luhansk studiert und da sich der Literaturgruppe „STAN“ angeschlossen. Anfang der 2000er hat die Organisation mehrere künstlerische Aktionen durchgeführt, die gesellschaftliche Probleme thematisierten. Als 2014 der Krieg im Donbas begann, zog  Yaroslav in die westukrainische Stadt Iwano-Frankiwsk, um dort seine Arbeit mit „STAN“ weiterzuführen. Dabei hat sich der Fokus vom STAN von der Kunst zu direktem gesellschaftlichen Engagement und Kulturpolitik verschoben. Jetzt macht Yaroslav zusammen mit seinen FreundInnen viele Projekte in den Bereichen direkte Demokratie sowie Stärkung der Zivilgesellschaft und interkultureller Kompetenzen.

In Projekte dieser Art fließt aktuell zwar viel Geld, gerade auch aus Deutschland, aber es fehlt meist an langfristiger Perspektive. Dazu müssten die lokalen politischen Eliten auslaufende Projekte in nachhaltige Institutionen überführen, was in der Ukraine allerdings selten passiert. Mit seinem Auftritt in der Fernsehshow „New Leaders“ zeigte Yaroslav, dass er sich nicht auf diese Kritik beschränkt, sondern auch aktiv für einen Wandel in der Politik wirbt und auf eine neue Generation von PolitikerInnen hofft.

Iryna Yaniv, Moderatorin

Geld und Erfahrungen aus Europa spielen eine große Rolle bei Aufbau und Stärkung von zivilgesellschaftlichen AkteurInnen in der Ukraine. Das heißt allerdings nicht, dass westeuropäische Erfahrungen und Methoden einfach übernommen werden sollten. Sie müssen von den AktivistInnen vor Ort für ihren ukrainischen Kontext angepasst und weiterentwickelt werden. In dieser Synergie entstehen einzigartige Projekte, die auch außerhalb der Ukraine Anerkennung finden und in Form von neuen Erfahrungen und Erkenntnissen von Ost nach West transferiert werden können.

Wir danken den Görlitzerinnen und Görlitzern für das Interesse und unseren Veranstaltungspartnern Heinrich-Böll-Stiftung, Interdisziplinäres Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS) und Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen für die freundliche Unterstützung vor Ort.

Text: Iryna Yaniv, Moderatorin der Diskussion, und Ruben Galle

 

 

 

Das Fotoalbum zur Veranstaltung finden Sie hier

Video finden Sie auf unserem YouTube Kanal.

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