Von Jakov Malerius
Im Winter 2013-2014 war ich 13 Jahre alt. Mein Alltag bestand aus Schule, Musikschule, Sport. Für Politik oder das Weltgeschehen hatte ich wenig übrig - alles in allem war ich der durchschnittliche Schüler, zu dem es nichts weiter zu bemerken gäbe, wenn da nicht 3 Tage im Februar 2014 gewesen wären, die mein weiteres Leben von Grund auf veränderten.
Es ist erstaunlich wie drei Tage einen Menschen verändern können. Drei Tage hatte ich das Glück, den Euromaidan mit eigenen Augen erleben zu dürfen. Ich sah die Zelte, Barrikaden und Menschen, manche in Sturmhauben und Uniformen, andere ganz gewöhnlich gekleidet. Es war wie eine Stadt, die niemals schlief. Tagsüber waren alle beschäftigt, nachts kehrte Ruhe ein, alle hockten um Feuer herum, eine ganz besondere Atmosphäre.
Tage danach roch meine Jacke noch nach dem Rauch der Feuer in den Tonnen, an denen sich die Menschen wärmten. Und trotz der Baseballschläger, Molotowcocktails, Pflastersteine und Uniformen, hatte ich keine Angst auf dem Maidan.
Wahrscheinlich, weil ich nicht ganz verstand, was dort vor sich ging. Trotzdem hat das Gesehene, die Ordnung in der Unordnung mich fasziniert. Ich wusste, dass ich Zeuge von etwas historischem geworden bin. Und ich würde mir gar nicht vorstellen wollen, wie meine Zukunft ausgesehen hätte, wäre ich nicht damals dort gewesen.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland kramte ich eine CD mit Liedern der Orangenen Revolution aus dem Schrank. Das war der bewusste Beginn meiner Beziehung mit der Ukraine. Ich begann das Land und seine Kultur, Geschichte, Sprache für mich zu eröffnen, erkunden und erforschen. Schrittweise. Und dies dauert bis heute an.
Ich begann aus der Position vieler Deutscher. Die Ukraine war für mich ein formloser Fleck, irgendwo im Osten, zwischen Polen und Russland. Jedoch schon ein Jahr später war ich stetig mit entweder einer ukrainischen Flagge oder einem Dreizack auf der Kleidung unterwegs und ließ mir einen „Oseledets“, die ukrainische Kosakenfrisur, wachsen. 3 Jahre später, im Herbst 2016, begann ich, Ukrainisch zu lernen. Und das, obwohl, da Russisch meine zweite Muttersprache ist, es keine unbedingte Notwendigkeit gegeben hätte. Ich hätte mit Ukrainern ja auch Russisch sprechen können. Aber es war mir wichtig und im Endeffekt auch nicht so schwer, wie am Anfang erwartet.
Nun sind mittlerweile 7 Jahre seit dem Beginn des Euromaidans vergangen. Rückblickend stelle ich eine Entwicklung meiner Beziehung zu der Ukraine und der Ausdruckweise dieser fest.
Die ersten Jahre waren geprägt von lauten Parolen. Ich ließ mich von der Stimmung und den Emotionen der Zeit mitreißen. Alles drehte sich um den Kampf von „Gut“ und „Böse“ , zunächst nur bezogen auf den Euromaidan, den Widerstand der pro-europäischen Bürger gegen Janukowitsch, anschließend aber auch auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Meine Welt war klar eingeteilt in schwarz und weiß. Zudem fehlte der Gedankenaustausch mit ukrainischen Jugendlichen. Heute sehe ich diese Periode eher als eine oberflächliche oder negative Identifikation gegen einen Feind, Aggressoren, der die Souveränität der Ukraine angreift und ganz einfach als jugendliche Naivität.
Mit der Zeit klangen die Parolen bei mir ab und ich begann, mich mit der Politik und den Prozessen, die im Land abliefen und weiterhin ablaufen, auseinanderzusetzen. Das Geschehen begann vielschichtiger, weniger eindeutig zu erscheinen.
Die Selbstbezeichnung „ ukrainischer Patriot“ und das obwohl ich ja gar nicht in der Ukraine geboren bin, blieb aber immer in der Luft hängen. So sah ich mich damals, auch wenn es heute komisch erscheint.
Zur gleichen Zeit fing ich an, Kontakte mit Ukrainern zu knüpfen und erhielt so einen Einblick in die Jugendkultur. Das war ein wichtiger Schritt in die ukrainische Realität. Aber selbst gelebt in der Ukraine hatte ich immer noch nicht.
Lange Zeit konnte ich die Gleichgültigkeit vieler ukrainischer Gleichaltriger dem Geschehen im Land gegenüber nicht verstehen. Ich verstand nicht, wieso so viele ausreisen wollten. Wieso viele ihre Gefühle zur Ukraine nicht zeigten, oder zumindest nicht in dem Maße, wie ich. Was für eine Bindung hatten sie zur Ukraine überhaupt? Oder war ich es, der übertrieb?
Insgeheim habe ich ja gehofft, dass die Ukrainer sich genauso oder ähnlich entwickeln würden, wie ich. 2014 sind wir ja faktisch aus der gleichen Position gestartet: Die Kultur und Identität musste (wieder-) entdeckt werden. Ich hoffte, dass die einen in den Jahren nach der Revolution der Würde ihre nationale Identität finden, die anderen sie weiterentwickeln würden.
Die große Enttäuschung kam Ende 2018, mit dem Beginn der Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen. Die erhoffte Entwicklung ist ausgeblieben: Erneut, oder besser gesagt, immer noch, dominierten Parolen und Emotionen. Es wurde eingeteilt in „ihr“ und „wir“, „свої” – „чужі“, „ми“ – „вони“.
Viele Fragen und Zweifel kamen auf, auf die ich als Deutscher in Deutschland keine Antwort wusste. Ich hinterfragte den Sinn der Unterstützung der Ukraine, sowie die Legitimität dieser Unterstützung als Deutscher, der zuvor nie in der Ukraine gelebt hat. Wieso ändert sich im Land nichts? Wie gut kenne ich die Ukraine? Wie unterscheiden sich die Ukrainer von den Deutschen? Kenne ich Deutschland überhaupt? Eine Kette von grundlegenden Fragen entstand, die sehr verunsicherte. Fragen, in denen man wahrscheinlich keine richtige und objektive Antwort finden kann.
Zum Glück folgte ein 9-monatiger Freiwilligendienst in der Ukraine, durch den ich mich einem Leben in der Ukraine annähern konnte. Auch hier herrschten bei mir teilweise Verwirrtheit und Zweifel, die Anfang dieses Jahres, in der zweiten Hälfte meines Dienstes, zu weichen begannen. Ich lebte allein, wurde selbständiger und wahrscheinlich erwachsener, erlebte die Ukraine aus der Nähe, ungeschönt und mit ihren starken Kontrasten.
Alles in allem lieferte die Zeit in der Ukraine einige wichtige Antworten auf meine Fragen. Meine Hauptthese würde so aussehen: „Der Schlüssel zu jeglicher Entwicklung liegt in der Bildung, dem Bildungssystem.“ Ich bin an einigen ukrainischen Schulen gewesen und obwohl ich nur wenig vom normalen Unterricht mitbekommen habe, waren Kontraste zu meiner Schulzeit in Deutschland offensichtlich. Genauso wie Vorteile unserer Schulen, oder zumindest der, an die ich gegangen bin. Anwendungsbasierter Unterricht, das Bilden einer eigenen Meinung und die Argumentation dieser, kritisches Denken, Vorbereitung auf spätere Selbstständigkeit auf der einen Seite, und Auswendiglernen sowie Reproduktion des gelernten Stoffs, richtige und falsche Antworten auf der anderen. Und ist es denn nicht zum großen Teil die Schule, die die aufwachsenden Generationen formt?
Zwar bezeichne ich mich nicht mehr als ukrainischen „Patrioten“, stehe aber trotzdem fest hinter der Ukraine, fiebere mit, hoffe auf Veränderungen, Veränderungen im Bewusstsein. Und ich werde versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten.
Jakov Malerius studiert Jura an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seinen Freiwilligendienst 2019-2020 verbrachte er in Kremetschuk, einer Handels- und Industriestadt im Süden der zentralukrainischen Oblast Poltawa mit etwa 220.000 Einwohnern.
Dieser Text ist im Rahmen unserer Online-Veranstaltung "Sieben Jahre nach dem Euromaidan: Das Nachleben einer Revolution in Biographien und in der deutsch-ukrainischen Zusammenarbeit", die am 26. November Online stattfand, entstanden.