Kurz vor dem ersten Jahrestag des vollumfänglichen russischen Kriegs gegen die Ukraine, haben wir die Mitbegründerin unserer Mariupoler Partnerorganisation Halabuda gefragt, wie sie den 24.02.2022 erlebte und wo sie heute tätig ist. Im Video spricht Halyna Balabanova über den Sieg der Ukraine, ihre Flucht, Neugründungen und welche Projekte sie heute unterstützt. Wir haben das Video in deutscher Sprache verschriftlicht:
"Ich denke wir siegen bereits. Sieg bedeutet Einigkeit und das Verständnis einer geteilten Erfahrung"
Halyna Balabanova, Co-Gründerin des Hubs Halabuda
Der Hub Halabuda
"Ich heiße Halyna Balabanova und komme aus Mariupol. 2014-2015 haben wir als ehrenamtliche Aktivistengruppe begonnen. 2016 haben wir dann die Kultur- und Bildungsplattform in Mariupol gegründet, die sich auf nicht-formelle Bildung, kreatives Unternehmertum spezialisiert hat, um mit Bürger*innen städtische Probleme zu lösen.
Am 24. Februar 2022 haben wir uns um 8:00 Uhr im Halabuda getroffen, um uns gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Kirchenvertreter*innen, und Ehrenamtlichen abzusprechen. In wenigen Stunden kamen Leute, die normalerweise an unseren Kursen teilnahmen und unsere Veranstaltungen besuchten, und brachten Proviant und warme Kleidung vorbei.
Wir haben unsere Lehren gezogen aus den ersten zwei Jahren (gemeint sind die Kämpfe um Mariupol 2014-2015 - Anm. Kyjiwer Gespräche) des Krieges. Die aktivistische Community war auf den Krieg vorbereitet. Natürlich haben wir nicht an eine vollkommene Vernichtung Mariupols geglaubt, aber wir waren auf eine Belagerung vorbereitet.
Die meisten Organisationen haben Vorräte gesammelt, samt Generatoren und Trinkwasser. Einige haben Sicherheitsräume im Stadtzentrum eingerichtet. Leider haben die internationalen Hilfsorganisationen hier nicht reagiert. Ich bin mir zu 100 Prozent sicher Mariupol wäre früher gefallen, wenn wir nicht so schnell aktiv geworden wären, Sozialkapital und Kontakte gebildet hätten. Über 25.000 Zivilist*innen sind zu uns gekommen, um humanitäre Hilfe verschiedenster Art zu erhalten: Wasser, frisches Brot, Lebensmittel, Medizin, Hygieneprodukte. Wären wir nicht da gewesen, weiß ich nicht, wie diese 25.000 Menschen an Brot gekommen wären.
Flucht aus Mariupol
Ich blieb dreieinhalb Wochen in Mariupol unter Beschuss. Unter Freiwilligenzentrum blieb noch drei weitere Tage geöffnet. Dann kamen russische Spezialeinheiten auf das Grundstück von Halabuda.
Wir dachten, wir würden bis zur letzten Minute bleiben, und diese letzte Minute würde erst später kommen, nicht sofort. Für mich war es... eine Art Morgen schneller Entscheidungen. Dein Verstand sagt dir, dass du gehen sollst, aber dein Herz nennt dich einen Verräter, weil du Dmytro, den Leiter unserer Organisation, und die anderen Teammitglieder zurückgelassen hast, die sagten: "Nein, wir bleiben bis zum Ende. Wir haben immer noch unser Lager, wir können immer noch etwas Nützliches an unsere Mitbürger in Mariupol verteilen." Stellen Sie sich vor, Sie packen Ihre Sachen zusammen und gehen ins Ungewisse. Ein Teil meines Teams, größtenteils Männer, brauchten noch einen ganzen weiteren Monat, um Mariupol zu verlassen. Einige mussten zu Fuß zum nächsten Dorf laufen, weil es keine Möglichkeit gab, mit dem Auto aus der Stadt zu kommen.
Neueröffnung von Halabuda in Tscherkassy
Zur Zeit hat sich mein Team über die ganze Ukraine und im Ausland verstreut. Das Kernteam hat einen Halabuda Space in Tscherkassy neueröffnet. Wir haben bereits drei Umzüge überlebt. Nach Mariupol öffneten wir in Saporischschja um, der nächst mögliche Ort. Bevor der Beschuss auch in Saporischschja begann, versuchten wir von dort zu arbeiten. Dann zogen wir nach nach Tscherkassy und veranstalten unsere Events derzeit hier. Sobald wir mehr Zugang im Süden haben, bringen wir unsere Aktivitäten wieder näher an Mariupol.
Halyna koordiniert heute die Aktivitäten der Kyjiwer Gespräche in Lwiw
Ich bin in mehreren Projekten in Lwiw aktiv. Einerseits kümmere ich mich um unser Team in Tscherkassy und helfe, wo ich kann. Andererseits repräsentiere ich die Kyjiwer Gespräche in der Region Lwiw. Wir arbeiten hier in mehrere Richtungen: Wir unterstützen Jugendliche in kleinen Städten und deren Partizipation in der Jugendpolitik und Jugendbewegungen in der Lwiwer Region. Außerdem unterstützen wir Binnengeflüchtete, sowohl Individuen als auch Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Die Jugendlichen sind derzeit in vier Projekten aktiv. In der Gemeinde Boryslaw arbeiten sie an einem coolen Projekt namens "Unabhängige Medien von Boryslaw". Das ist ein Blog über Ereignisse in der Stadt. Geplant sind auch Interviews mit berühmten Persönlichkeiten aus Boryslaw und aus neu hinzugezogenen.
Das Programm "MindGame" in Truskavets ist ein ganzer Tag voller Spiele, an dem sowohl einheimische Schulkinder als auch Neuankömmlinge teilnehmen.
In Velyki Mosty gibt es ein Projekt, das die Kinder gemeinsam mit einem Therapeuten in ihrer Schule initiiert haben. In einer Reihe von Workshops lernen die Teilnehmer*innen Strategien zur Selbsthilfe und wie sie ihre Mitschüler*innen mental unterstützen können.
Das vierte Projekt heißt "Lysropadovy Chyn", das den Neuankömmlingen spielerisch die lokale Kultur, Geschichte und Traditionen näher bringen soll.
Unsere Non-Profit-Organisation arbeitet außerdem an drei eigenen Projekten.
Das erste Projekt "Sei dein eigener Therapeut" ist eine YouTube-Reihe mit praktischen Tipps für die geistige und seelische Gesundheit.
Ein zweites Projekt organisiert kulturelle Veranstaltungen in Drohobytsch, die Binnengeflüchtete als Performer*innen einbindet.
Bürger aus Berdjansk haben ein drittes Projekt initiiert, das sich an Binnengeflüchtete in der Oblast Lwiw richtet."
Die Plattform der Kyjiwer Gespräche sind ein integraler Bestandteil der deutsch-ukrainischen zivilgesellschaftlichen Arbeit. Die Kyjiwer Gespräche bieten Kontinuität und Ausblick, sie begleiten ukrainische Changemaker in ihrer Entwicklung bereits seit dem ersten Maidan (Orangene Revolution) über den zweiten Maidan (Revolution der Würde), durch Kriegszeiten, und so weiter. Sie sind eine große Unterstützung für alle, die den Wandel vorantreiben wollen.
- Halyna Balabanova