Wiederaufbau als Chance. Wie sich das einst florierende Trostjanez nach der Besatzung neu erfindet

Die Okkupation hat die Stadt zehn Jahre zurückgeworfen. Anstelle von Mülltrennung, Fahrradwegen und Sportförderung, wie früher, muss Trostjanez heute wieder Löcher im Haushalt stopfen. Die 20.000 Einwohner zählende Stadt in der Oblast Sumy ist nur 30 Kilometer von der Grenze entfernt. Vor dem Krieg war Trostjanez ein Musterbeispiel für erfolgreiche Stadtentwicklung – beinahe Vollbeschäftigung, Investitionen in Unternehmen und moderne Infrastruktur. Das weckte den Neid der Russen, weshalb sie alles vernichteten. Nun wird die Stadt noch schöner, ist der Bürgermeister überzeugt, obgleich es an Arbeit und Problemen nicht mangelt.

Von Jaroslawa Tymoschtschuk, aus dem Ukrainischen von Dario Planert.

 

Diese Stadt geht alle Ukrainer*innen etwas an, selbst wenn sie noch nicht hier waren. Ihre Ausgaben sind in ihre Entwicklung geflossen. In der hiesigen Fabrik wurde Schokolade und die bei Kindern beliebte Süßigkeit „Barni“ hergestellt. Hier wird Kaffee der Marke Jacobs abgefüllt und die hier produzierten Waren werden ins Ausland exportiert. Die „Schokoladka“, so nennen die Einwohner*innen die Fabrik, steht für Millioneninvestitionen und Arbeitsplätze. Trostjanez, das als Reformvorreiter galt, entwickelte sich rasant und bot eine hohe Lebensqualität. Am 24. Februar marschierten russische Truppen ein.

Damals war nicht ein einziger ukrainischer Kämpfer in der Stadt, weshalb sie in Kürze eingenommen war. Als die 93. Brigade Trostjanez gemeinsam mit der Gebietsverteidigung und örtlichen Partisanen einen Monat später befreite, bot die umliegende Landschaft ein schauriges Bild. Tote Menschen lagen inmitten zerstörter Gebäude und verwüsteter Infrastruktur. Die Fabrik war in desolatem Zustand. Bürgermeister Juri Bowa jedoch gibt sich ungebrochen: „Die Zerstörung ist ein Anlass zum Wiederaufbau nach modernen Maßstäben. Man sollte sich nicht an der Vergangenheit festklammern“. Österreichische Stadtplaner arbeiten derzeit an einem Entwurf.

Reformvorreiter vor Russlands Haustür

Trostjanez Charme ist auch noch sichtbar, nachdem die russische Armee die Stadt geplündert hat. Das Stadtbild trägt europäische Züge. Es gibt viele Grünflächen, Parks, einen Fahrradverleih, ein modernes Krankenhaus und kulturelle Einrichtungen.

Das Geschäft „ATB“ mit seinem Säuleneingang versprüht Lokalkolorit. Doch über allem hängt der Krieg. Die ausgebrannten Gebäude der Busstation und des Bahnhofs mit seinem Vorplatz und Cafés. Nur das sowjetische Panzerdenkmal steht unberührt mit aufgerichtetem Kanonenrohr inmitten des verwüsteten Platzes.

 

Der zentrale Platz mit dem zerstörten Bahnhof

Trostjanez hat es mit seiner Verwaltung und Reformen gut getroffen. Weniger Glück hatte es mit dem Nachbarn.

„Am 24. Februar hatten wir nicht einen einzigen Soldaten. Wir hatten nicht einmal Waffen für die, die sich der Gebietsverteidigung anschließen wollten. Wir konnten uns nicht verteidigen“, erinnert sich Bürgermeister Juri Bowa.

Er ist ganz nach der neuesten Mode unter ukrainischen Bürgermeistern gekleidet: ein khakifarbener Funktionsanzug mit jeweils einem Aufnäher für seinen Nachnamen und das Stadtwappen. Neben dem Rathaus patrouillieren bewaffnete Nationalgardist*innen. Im Gebäude herrscht Betrieb. Den Einwohner*innen werden noch immer humanitäre Hilfsmittel ausgegeben, die aus allen Ecken der Ukraine und aus dem Ausland herangeschafft werden. Kisten mit Windeln und anderen Hilfsgütern stehen neben Containern für die Mülltrennung. Sie repräsentieren die zwei Realitäten, in die der 24. Februar das Leben in der Stadt gespalten hat.

Bürgermeister Bowa arbeitet Meetings im Stundentakt ab. Er trifft Kyrylo Tymoschenko vom Präsidialamt, lokale Landwirt*innen, Wohltäter*innen aus der Schweiz und nimmt per Zoom an einer polnischen Konferenz über Stadtentwicklung teil. Nebenbei pflegt er regen Kontakt zu Journalist*innen. Ich beobachte, wie sein weitschweifiger Kommentar von einer Kamerafrau unterbrochen wird. Der Akku macht nicht mehr mit. Es muss für Ersatz gesorgt werden. Juri wartet bedächtig. „Genug Material?“, fragt er. Schon vor dem Krieg nutzte die Stadt ihre Außendarstellung strategisch. Nun ist sie wichtiger denn je.

Ohne Truppen war Trostjanez dem Angriff schutzlos ausgeliefert. Am 24. Februar um acht Uhr morgens marschierten die Russen mit einer Kolonne aus über hundert Einheiten ungehindert in die Stadt ein. Anschließend, so erinnern sich Zeug*innen, patrouillierten täglich Militärfahrzeuge durch die Stadt. Innerhalb eines Monats zerstörten die russischen Soldaten die Fabrik, Privathäuser, das Krankenhaus und den Bahnhof. Der Gesamtschaden konnte noch nicht abschließend beziffert werden. Menschen wurden gefoltert und erschossen. Diejenigen, die konnten, brachten sich vor den Besatzern in Sicherheit. Die Hälfte der Stadtbevölkerung floh über die eingerichteten Korridore. Die meisten von ihnen sind inzwischen zurückgekehrt.

Eine Spur der Zerstörung zieht sich durch die Stadt

Kurz nach der Befreiung zog eine vom Rathaus eingesetzte Kommission durch die Straßen der Stadt und der zugehörigen Gemeinden und begutachtete die Schäden. Sie dokumentierte Einschusslöcher, beschädigte Dächer, zerborstene Fenster und kaputte Technik. In den 38 Siedlungspunkten der Gemeinde sind insgesamt 1.400 Gebäude beschädigt. 241 Wohngebäude sind bis auf die Grundfesten niedergebrannt. Das sind 15 – 20 Prozent der gesamten Wohnfläche. Im Rathaus können die Menschen sich das Nötigste aus den Beständen der humanitären Hilfsgüter nach Listen aushändigen lassen.

Noch mehr Zerstörung verzeichnen die städtischen Unternehmen, Schulen und Kindergärten. Nahezu alle Verwaltungsgebäude, in denen sich die russische Armee einquartiert hatte, sind in chaotischem Zustand. Möbel wurden kaputtgemacht, Dächer beschädigt und die Heizungen weisen Frostschäden auf. Wie viel die Reparaturen kosten werden, steht noch nicht fest. Eine Expertenkommission beschäftigt sich mit dieser Frage. Einige der Schäden betreffen Strukturen, die nicht in der Zuständigkeit der Stadt liegen. Doch auch dieser Arbeit nimmt sich das Rathaus an. Ein Wiederaufbau des Bahnhofs, beispielsweise, funktioniert nicht ohne den anliegenden Platz. Hier bedarf es der finanziellen und praktischen Unterstützung der Stadt.

Die Fabrik hat am meisten abbekommen. In Trostjanez wird sie „Schokoladka“ genannt. Hier werden Biskuits und Kekse gebacken, Milka-Schokolade hergestellt und Kaffee abgefüllt. Amerikanische Investoren legten 2010 40 Millionen Dollar in der Fabrik an. Ein Viertel des Wertes ging durch die Kämpfe verloren. Die russische Armee feuerten von hier aus Raketen und Mörsergranaten auf die umliegenden Dörfer ab. Später lieferten sie sich hier Gefechte mit den ukrainischen Streitkräften. Bei ihrem Rückzug stahlen die russischen Soldaten Technik, zerstörten Schlösser und stellten alles auf den Kopf. Lediglich die Maschinen für die Kaffeeverarbeitung sind ganz geblieben. Sie sind schon wieder in Betrieb.

Die Maschinerie für die Biskuits und die Schokolade sind durch Trümmerteile beschädigt worden und müssen repariert werden. Die wertvollsten Teile der unbeschädigten Ausrüstung wurden in die benachbarte Oblaste geschafft. Zunächst aber sah es für die Produktion finster aus, denn die üblichen Transportwege der Kakaobohnen über die Seehäfen sind versperrt. Ausländische Unternehmen sind nicht bereit, die Waren durch das ganze Land bis Trostjanez zu transportieren. Es müssen neue Wege für die Logistik erdacht werden, um die Rohstoffe aus Polen herbeizuschaffen. Der Staat habe seine Unterstützung zugesichert, so der Bürgermeister:

„Wir haben Absprachen getroffen, dass Transporte bei den Straßenkontrollen schneller durchgelassen und Kisten nicht geöffnet werden, denn für einige Waren, zum Beispiel Kakaobohnen, ist das äußerst wichtig. Von unserer Seite tun wir alles, was wir können. Aber Produktion, Logistik und Vertrieb wiederherzustellen ist nicht das Gleiche, wie einen Schawarma-Laden zu eröffnen. Gegenüber den Investoren argumentieren wir, dass es einen zweiten Überfall nicht geben wird. Wir sind jetzt gut mit Waffen und Truppen ausgerüstet. Und wir haben gelernt uns zu verteidigen“.

Die Kommunikations-, Strom- und Wasserverbindung Auf dem Gelände der Fabrik haben die Kämpfe überstanden. Einzelne Produktionsstätten zu restaurieren ist immerhin schneller und günstiger, als den gesamten Betrieb noch einmal von Null zu starten.

Die Besatzer hinterließen Nachrichten an den Wänden: „Die Amerikaner helfen euch beim Wiederaufbau“. Im Büro des Bürgermeisters zerstörten sie einen kristallenen Pokal, den die Stadt als Auszeichnung für ein Projekt des Europäischen Parlamentes erhalten hatte. Bowa ist sich sicher: „Es war die Entscheidung für Europa, die sie aufgebracht hat. Sie haben Gemeindevorsteher umgebracht. Als Grenzstadt muss Trostjanez den Kopf hinhalten“.

Die größte Hoffnung ist nun, dass der Fabrikbetrieb nicht zusammenbricht. Von den 200 Mio. Hrywnja (5,4 Mio. Euro) an Steuern, die die Stadt im vergangenen Jahr eingenommen hat, hat sie 20 – 25 Mio. Hrywna (680.000 Euro) eingesetzt, um neue Unternehmen zu fördern.

Ein neuer Plan

Trostjanez empfängt regelmäßig ausländische Delegationen, darunter Regierungsvertreter*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Stiftungen. Bowa hat viele Kontakte in Europa. Einige kommen auf die Stadt zu, andere kontaktiert der Bürgermeister selbst. Wenn Bowa abends nachhause kommt, schickt er seinen Kollegen im Ausland E-Mails, die er vorher aus dem Google-Übersetzer kopiert hat. Englisch beherrscht Juri nicht sonderlich gut, doch das hält ihn nicht auf: „Man darf sich nicht schämen zu sprechen, selbst wenn man die Sprache nicht kennt. Wenn du nicht sprechen kannst, dann verständigst du dich mit Händen und Füßen. Und wenn du nicht gestikulieren kannst, dann malst du eben etwas“.

Juri Bowa mit Kollegen bei einer Zoom-Konferenz zur Revitalisierung von Industrieräumen

An Enthusiasmus bei der Vermittlung seiner Ideen ist er nur schwer zu überbieten. Er hat Briefe an alle polnischen Städte mit Hilfsanfragen verfasst. Die Briefe enthalten Listen mit benötigten Dingen, die sie beim Besuch von Wohnungen, Kindergärten, Schulen und Kliniken erstellt haben. „Wir brauchen Heizungen, Öfen, Staubsauger und Decken“, zählt er auf.
„Unwichtige Dinge gibt es nicht. Selbst, wenn es nur zwei Multikocher sind, kann ich jemanden finden, der sie braucht“, führt er unternehmerisch vor.

Als er nach der Befreiung ins Rathaus kam, zeigte sich, dass die Russen alle Computer mitgenommen und die Überwachungskameras herausgerissen hatten. In den sozialen Netzwerken bat er um eine Computerspende für sein Team. Mittlerweile haben alle die nötige Technik. Auch Kameras sind wieder vor Ort.

Zur gleichen Zeit traten österreichische Fachleute der iC consulenten ZT GmbH an Trostjanez heran. Im Mai machten sie sich daran, ein Konzept für den Wiederaufbau der Stadt auszuarbeiten. Sie sind Spezialist*innen für Stadtplanung, Arbeitsschutz, Umwelt und Energieeffizienz. Eine Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmen und dem Rathaus hatte es bereits in der Vergangenheit gegeben. Nun boten sie ihre Dienste umsonst an.

„Wir haben ihnen Dokumente mit unserer Strategie, unseren früheren Arbeiten und unseren Plänen und Träumen von vor dem Krieg übergeben. Sie übersetzen und studieren sie, und schon im September erwarten wir Gespräche in Fokusgruppen. Unsere Arbeitsgruppe arbeitet mit ihrer zusammen. Wir haben ihnen die Entwürfe unserer Architekt*innen gegeben. Wir möchten Fahrradwege anlegen, moderne Gebäude und die Busrouten optimieren. Es geht nicht darum, ein paar Straßen miteinander zu verbinden, sondern Sicherheit, Transport und Inklusion mitzudenken“

Bowa setzt auf diese Dokumente. Man kann sie Sponsor*innen, Investor*innen und Regierungen auf den Tisch legen - all jenen, die sich zu helfen bereit erklären. Er hofft auf westliche Gelder für den Wiederaufbau und er selbst scheint sie ein wenig anzuziehen.

Auf dem Treffen mit Kyrylo Tymoschenko spricht er von einem Grundstück der stillgelegten forstwissenschaftlichen Forschungsstatio. Die Stadt wollte es schon seit Langem aufkaufen. Vor einigen Tagen hat Bowa ein Schreiben vom Leiter einer deutschen Stiftung erhalten, in dem dieser sich bereit erklärt, 50.000 Euro für die vorübergehende Instandhaltung auszugeben, damit das Gebäude zumindest den Winter übersteht.
„Wir packen jede Chance beim Schopf. Sogar diese Spende kann das Leben in der Stadt verändern. Die Forschungsstation wollen wir neu einrichten, zum Beispiel mit einem Naturkundemuseum und einem Café mit Eintrittspreisen. Es geht um Dividenden für die Stadt“, sagt der Bürgermeister.

Er hat ein Treffen mit einer Nichtregierungsorganisation aus der Schweiz geplant, bei dem es um den Wiederaufbau des Kanals gehen soll, der bei den Feuergefechten beschädigt wurde. Der Bürgermeister erwartet einen Vorschlag, wie die Zerstörung am besten rückgängig gemacht werden kann. Abflüsse, Energieeffizienz - alles soll europäischen Standards entsprechen.
Betrachtet man die Situation von einer anderen Warte aus, könne man Potential erkennen, räsoniert Bowa. Die Schäden seien ein Anlass, einen Wiederaufbau nach modernen Maßstäben zu wagen.

Unter Beschuss

50 Kilometer von Trostjanez entfernt liegen zwei Dörfer in der russischen Schusslinie. In Bilopillja und Krasnopillja selbst ist es still, doch das dumpfe Grollen im Hintergrund sorgt für ständige Anspannung. Der Krieg wütet direkt vor der Haustür.
Hanna Schwezowa reinigt nach der Nachtschicht ihre Schuhe. Sie ist erschöpft, doch ihre Bewegungen sind zielsicher und ihr Blick freundlich. Sie ist die medizinische Direktorin des Krankenhauses von Trostjanez, das durch Panzer und andere Geschütze beschossen wurde. 30 Tage lang, bis zur Befreiung der Stadt, hat Hanna im Krankenhaus gelebt. Gemeinsam mit dem verbliebenden medizinischen Personal und den rund 30 Patient*innen schlief sie in den Korridoren und suchte Deckung im Lagerraum.

Tetjana Sydorenko, Leiterin der Hebammenstation, führt durch das Krankenhaus

Geholfen haben ihnen anfangs die rechtzeitig erworbenen Generatoren und Wasserreserven. Sie brachten im März acht Kinder zur Welt und operierten diejenigen, die unter Beschuss geraten sind. Eigentlich hätte das Krankenhaus zu Gunsten des Kreiskrankenhaus in Ochtyrka, dem administrativen Zentrum der Region, schon geschlossen werden sollen.

Für den Fall eines erneuten russischen Angriffs hat das Krankenhaus den Keller neu ausgestattet

„Und wenn es nochmal zur Besatzung kommt und die Wege verschlossen sind? Wohin sollen sich die Leute dann um Hilfe wenden?“ lautet ihre rhetorische Frage. Hanna ist entschieden gegen die Schliessung des kleineren Krankenhauses in Trostjanez.

Sie führt durch die gynäkologischen und perinatalen Abteilungen des Krankenhauses, die im besten Zustand sind. Hier herrscht eine Sauberkeit, die beinahe blendet. Die Inneneinrichtung ist modern mit Sesseln aus Samt und Patientenzimmern mit Whirlpools und neuester Sanitärtechnik. Bei Google hat das Krankenhaus 4,6 Sterne.

Ultraschall in der gynäkologischen Abteilung

Die Meinungen der Anwohner*innen gehen in der Frage auseinander, ob das Krankenhaus aus Frust oder bloßer Zerstörungslust angegriffen wurde. Der stärkste Beschuss erfolgte am Tag des Rückzugs der russischen Truppen, dem 23. März. Alle Notarztwägen wurden zerstört. Mittlerweile zählt der Fuhrpark des Krankenhauses wieder zehn Fahrzeuge. Es handelt sich um Spenden von Wohlfahrtsorganisationen.

Nach dem Beschuss

Alle 600 Fenster des Krankenhauses waren zerstört worden. Mit Spenden und aus Mitteln des Gemeindehaushalts hat man neue eingesetzt. Die Schäden am Krankenhaus werden mit 50 Mio. Hrywnja (1,4 Mio. Euro) beziffert. Man rechnet mit 20 Mio. Hrywnja (550.000 Euro) aus dem staatlichen Wiederaufbauprogramm. Den Rest wird man aus eigener Tasche zahlen.

Panzer und andere Geschütze nahmen das Krankenhaus gezielt unter Feuer

An einen erneuten Angriff möchte man in Trostjanez nicht glauben, jedoch bereitet man sich auf den „worst case“ vor. Im Keller des Krankenhauses werden Operations- und Kreißsäle eingerichtet, sowie Verwaltungsräume. Blumenvasen zieren die Kommoden neben den Betten.

Reformziel: Investitionen und Sportförderung

Juri Bowa jongliert im Gespräch gekonnt mit Fachbegriffen aus der Urbanistik. Die Fabrik nennt er „Cluster“. Das ist das Herz der Stadt, von dem alle Impulse ausgehen.

Vor der Bombardierung waren in der Schokoladenfabrik Mondelez 1.500 Menschen beschäftigt. Der Anteil der Stadtbevölkerung im arbeitsfähigen Alter liegt bei 8.800 Personen.

„Die Fabrik hat kleinere Unternehmen angezogen. Die Arbeiter*innen müssen ernährt werden, Dinge gereinigt, gewartet und repariert werden. Logistik, Transport, Sicherheit. Es sind private Firmen entstanden, die sich um all das gekümmert haben. Ein großer Investor ist für Trostjanez optimal, denn für alles weitere ist die Bevölkerung zu klein. Große Unternehmen benötigen mindestens fünfhundert Menschen. So viele freie Hände gab es vor dem Krieg nicht bei uns. Die Arbeitslosigkeit lag bei ein bis zwei Prozent. Aber das waren Leute, die nicht arbeiten wollten“.

Juri Bowa ist seit 17 Jahren Bürgermeister von Trostjanez

Bowa ist mehrmals im Amt bestätigt worden. Er sagt, seine Amtszeit sei gerade ausreichend, um seine Strategie in die Tat umzusetzen. Als Bowa den Posten antrat, bewegte sich der Haushalt im Bereich von ein paar Millionen Hrywnja. Er setzte zwei Ziele – Investitionen anwerben und den Sport fördern.

„Die ersten Jahre arbeiteten wir daran, die Löcher zu schließen, und dann machten wir uns an die Fabrik, an Investitionen und Erleichterungen für Unternehmen. Der Ansatz war neu und nicht alle haben ihn verstanden. Wir entschieden, dass wir Anträge für Unternehmensgründer*innen innerhalb von nicht mehr als drei Tagen bescheiden, damit sie schnell beginnen können. Außerdem haben wir zu Beginn die Investitionssteuer von 5 auf 0,5 Prozent gesenkt, abhängig vom Tätigkeitsfeld. In Ochtyrka nebenan liegt sie bei 10 Prozent.

Auch die Grundsteuer haben wir auf ein bis drei Prozent gesenkt, während sie in anderen Gemeinden bei fünf bis acht Prozent liegt. Das galt für die Aufbauphase, anschließend erhöhten wir auf sieben bis acht Prozent. Investor*innen wussten diesen Schritt zu schätzen.

In den vergangenen fünfzehn Jahren sind in der Stadt zwischen ca. 300 Mio. Dollar angelegt worden. Gemessen an den Investitionen pro Kopf waren wir die führende Gemeinde und haben selbst Großstädte wie Charkiw abgehängt“.

Unternehmen ließen sich in der Stadt nieder und Trostjanez hatte plötzlich das Geld, um Krankenhäuser, Schulen und das Stadion zu renovieren, die Bibliothek mit einem Coworking-Space und einem Café zu erweitern und Straßen auszubessern. Zudem stieg das Budget nach der Dezentralisierungsreform, wodurch der Stadt heute mit allen Subventionen eine jährliche Summe von 400 Mio. Hrywnja (11 Mio. Euro) zur Verfügung steht.

Tischtennisplatz in einem Park von Trostjanez. Vor dem Krieg war Sportförderung eine wichtige Strategie der Stadt

Bowa machte sich daran, sein zweites Ziel zu erreichen.

„Wir begannen mit Kinderspielplätzen und machten den Sport zur Priorität. Wir haben das Stadion restauriert, den Fahrradverleih eingerichtet und eine Fußballmannschaft gegründet. Ich habe studiert und Seminare besucht und ich weiß, welchen Einfluss Sport und Kultur auf die Entwicklung einer Stadt haben. Solange beides in einer kleinen Gemeinde gegeben ist, muss der Mensch nicht in eine Metropole ziehen."

Die Spieler der Mannschaft erhielten von Trostjanez ein Gehalt, das ihrer Erfahrung entsprach.

„Ein achtzehnjähriger Junge aus der Sportschule, dem wir eine Chance geben, erhält ein minimales Honorar. Außerdem gibt es Prämien für gewonnene Spiele, denn Stimuli gehören im professionellen Sport dazu. Das ist nicht bloß ein lokaler Club. Die Mannschaft hat schon in der zweiten Liga gespielt.

Bei uns besuchen 150 Kinder unterschiedliche Sportvereine. Wir bauen eine Fußballakademie und hoffen, dass die Kinder in ein paar Jahren ein starkes Team aufbauen. Sie gehen mit ihren Eltern zu den Spielen, werfen sich einen Schal um und feuern das Team an“.

Ohne den Krieg, so Bowa, wäre die Stadt ihrer Ambition nahegekommen, zu einem Zentrum des Sportes und der Kultur in der Ukraine zu werden.

Park im Zentrum von Trostjanez

Die wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, Investor*innen und Anwohner*innen in der Stadt zu halten. Allein die Organe der Selbstverwaltung haben 10 bis 15 Prozent ihrer Belegschaft verloren. Es gibt ein Architekturbüro, aber niemanden, der es leitet. Die leitende Architektin ist nach Tschechien ausgereist und wird, wie es aussieht, nicht zurückkehren.

Die Stelle ist zur Neubesetzung ausgeschrieben. Besonders wertvollen Fachkräften bietet der Bürgermeister ein Gehalt von 20.000 Hrywnja (550 Euro). Es fehlt an Personal in den Rechts- und Wirtschaftsabteilungen. Die Menschen kommen aus Sumy und Ochtyrka hierher zur Arbeit und müssen unterwegs eine Pontonbrücke überqueren.

Allerdings träumten zumindest vor dem Krieg einige Menschen davon, in Trostjanez zu arbeiten. Olena Wolkowa ist heute Stellvertreterin des Bürgermeisters für Gesundheitsfragen. Sie hat lange als Hebamme in der Siedlung Borowa bei Charkiw gearbeitet. Hier hörte sie von den Reformbemühungen in Trostjanez und machte schließlich die Bekanntschaft des Bürgermeisters. „Ich fragte mich, weshalb ihm gelang, woran andere scheiterten“, erinnert sich Olena. Sie wollte Teil der Bewegung sein.

Als sich bei ihrem Gespräch mit Bowa herausstellte, dass er eine Fachkraft sucht, schloss sie ohne zu zögern die Pforten ihres Hauses in Borowa und mietete gemeinsam mit ihrem Mann eine Wohnung in Trostjanez an. Sie spricht Russisch, benutzt dabei jedoch die ukrainischen Fachausdrücke ihres Metiers. Olena entstammt einer Familie umgesiedelter Deutscher und wurde in Kasachstan geboren. An Umzüge ist sie gewöhnt.

Olena Wolkowa ist für die Arbeit aus Borowa bei Charkiw hergezogen

Sie arbeitet seit zwei Jahren bei der Stadt, doch während der Besatzung verheimlichte sie diesen Umstand. Sie verbarg sich unter einem Kopftuch und zog sich dicke Stiefel an. „Ich arbeite im Krankenhaus“, gab sie bei den russischen Checkpoints an. Im Krankenhaus half sie bei der Versorgung von Verletzten und bei der Bergung von Toten.

In jenen Tagen, sagt sie, habe sich ihr Leben wie ein Computerspiel angefühlt. Sie habe nicht realisieren können, dass all dies wirklich passierte. Olena gehört offensichtlich zu jenen wertvollen Fachkräften, von denen Juri Bowa spricht. Wolkowa kann die Ärzt*innen nicht verstehen, die während der Besatzung die Stadt verlassen haben. Sie seien doch wehrpflichtig. Als ihre Tochter Olena am 24. Februar in Kyjiw abholte und fragte, was sie jetzt tun sollten, blieb sie beharrlich: „Was meinst du? Zur Arbeit gehen, natürlich“.

Bowa und ich beenden unser Gespräch um 19:00 Uhr im sich leerenden Rathaus. Drei Mitarbeiter*innen nehmen an der Zoom-Konferenz mit den polnischen Kolleg*innen teil. Das Thema ist die Revitalisierung alter Industrieflächen. Der Bürgermeister hat auch ein pragmatisches Interesse. Er möchte mit ein paar Worten auf die Stadt aufmerksam machen. Möglicherweise hört sie jemand, der Hilfe anbieten kann.

Der Monat unter russischer Besatzung habe Trostjanez um mindestens zehn Jahre zurückgeworfen, bilanziert Bowa. Nun gelte es, die Investor*innen erneut zu überzeugen. Doch es sei nicht angebracht, sich zu beklagen: „Es macht keinen Sinn auf das Ende des Krieges zu warten. Wer mit gefalteten Händen sitzen bleibt, verliert. Das nächste Jahrzehnt wird ein Wettbewerb der Krisenmanager*innen. Es wird darum gehen, wer die besten Lösungen findet, wer sich einen Weg ausdenkt, wie man Investor*innen auch unter der Bedingung permanenter Bedrohung anzieht“.

Polen hat es geschafft

Zu Beginn der 1990er Jahre hat Bowa Straßen-, Brücken- und Flughafenbau in Charkiw studiert. Die Wirtschaftskrise Anfang der 90er brachte ihn dazu, „Krawtschutschky“ (Anm. d. Üb.: ironische Bezeichnung für Einkaufstrolleys) nach Polen auszufahren. In den 1990er Jahren war Polen ein armes Land und die Menschen rissen einem Waren wie Bügeleisen und Thermometer, die Juri lieferte, förmlich aus der Hand.

Von seiner ersten Reise kehrte der Student Bowa mit zwanzig Dollar zurück. Die investierte er in seine nächste Fuhre. Nach Abschluss seines Studiums ging er nicht zum Straßenbau. Er hatte sich bereits eine wirtschaftliche Grundlage geschaffen. Bevor er sich in seiner Herkunftsstadt Trostjanez niederließ und dort einige unternehmerische Gehversuche unternahm, darunter Kioske, ein Café, einen Großhandel und ein Bauunternehmen, fuhr er noch für einige Zeit nach Polen. Das Land veränderte sich vor seinen Augen. Er erinnert sich an allgegenwärtige Baustellen.

„Wann haben die das alles gebaut?“, wunderte er sich damals oft.

Wenn er heute zu Treffen mit Bürgermeister*innen polnischer Städte reist, hat er eine Antwort auf diese Frage. Moderne interaktive Museen, kreative Räume in alten Betrieben, neue Rohre, die nicht brechen – all dies möchte Bowa auch für seine Stadt.

Ich frage ihn, wie viel Zeit er dafür einplant, nachdem die russische Armee hier alles verwüstet hat.
In 15 bis 20 Jahren, schätzt er. Schnell gehe das nicht, aber Polen habe es ja auch geschafft. Der Glaube, dass Russland nicht noch einmal angreift, ist ein brüchiges Fundament für diese Pläne. Aber ohne ihn macht es keinen Sinn an die Arbeit zu gehen.

Der Artikel ist zuerst auf der mehrfach ausgezeichneten Online-Plattform Texty.org.ua erschienen.

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