BRIDGING THE DISTANCE – CORONA IN DEN REGIONEN. SERIE, TEIL 4: LWIW

Wie eine Touristenstadt nach zwei Monaten Stille wieder zum Leben erwacht

Der Vize-Bürgermeister von Lwiw Andrij Moskalenko. Foto: K. Rodak

Unsere Serie geht der Frage nach, wie sich die Ukraine und die ukrainische Zivilgesellschaft durch die Pandemie verändern. Dabei blicken wir insbesondere auf acht Regionen, in denen die Kyjiwer Gespräche aktiv sind. Im vierten Teil der Serie geht es um Lwiw und um die wirtschaftlichen Folgen für die Region.

Fragt man einen x-beliebigen Einwohner von Lwiw nach seinen Assoziationen mit der Quarantäne, so ist unweigerlich die Rede davon, wie sich die sonst so belebten Straßen der Innenstadt plötzlich leerten, wie die meisten selbst in der gläubigsten Region der Ukraine nicht mehr zur Kirche gingen und wie – wenngleich nur vorübergehend – die Verkehrsstaus aus dem Stadtbild verschwanden.

Von Kateryna Rodak, Lwiw

Die Quarantäne wurde über die Stadt am 12. März infolge eines Regierungsbeschlusses verhängt. Zunächst wurden Schulen und Kindergärten geschlossen und Großveranstaltungen untersagt, dann wurden die Regeln dahingehend verschärft, dass die meisten Läden und gastronomischen Einrichtungen schließen mussten. Auch wurde die Dauer begrenzt, für die man sich zur Erledigung seiner Einkäufe in Supermärkten oder auf Freiluftmärkten aufhalten durfte.

Unmittelbar nach Ausrufung der Quarantäne für Lwiw und die gleichnamige Region wurden Maßnahmen ergriffen und Aktionen gestartet, um das Gesundheitswesen mit dem Nötigsten auszustatten. Die zuständigen staatlichen Stellen machten Millionenbeträge frei, um Beatmungsgeräte, Schutzmasken und Schutzkleidung für das medizinische Personal zu beschaffen. Ärzte erhielten Unterstützung durch Geschäftsleute und Abgeordnete. Große Bau- und IT-Firmen kauften für Krankenhäuser medizinisches Gerät, Schutzschirme und Schutzkleidung. Medizinisches Personal wurde von Restaurants kostenlos mit Mahlzeiten versorgt und von Taxifahrern zur Arbeit gebracht. An alle Ärzte und Pflegekräfte, die mit Coronaviruspatienten arbeiten, wird fortlaufend eine finanzielle Zuwendung gezahlt.

Im Vergleich zu den Nachbarregionen war die Situation in der Region Lwiw zu Beginn der Quarantänemaßnahmen nicht ungünstig. Zwar wurden täglich neue Infektionen mit dem Coronavirus bestätigt, doch den ersten registrierten Todesfall gab es erst am 4. April. Die Anzahl der Erkrankten stieg jedoch Ende April/Anfang Mai stark an, weswegen die geplante erste Stufe der Lockerungen der Quarantäne zunächst verschoben wurde.

Von der Verhängung der strengsten Stufe der Quarantäne bis zu den ersten Lockerungen vergingen zwei Monate. Dieser Stillstand hat das lokale Geschäftsleben stark belastet. In Lwiw mit seinem starken Schwerpunkt auf die Tourismusindustrie litt das Gastgewerbe am stärksten. Allein im vergangenen Jahr besuchten Lwiw über 2,5 Millionen Touristen, von denen jeder im Schnitt 94 EUR pro Tag in der Stadt ließ. In diesem Jahr werden die Besucherzahlen, wenn überhaupt, höchstens auf dem Stand von vor zehn Jahren liegen.

„Der Tourismus bedeutet für Lwiw in erster Linie Arbeitsplätze. Diversen Schätzungen zufolge hängen bis zu 10.000 Jobs und 30 verschiedene Berufszweige vom Gastgewerbe ab. Hier geht es auch um 400 Millionen UAH (14 Millionen Euro) an Steuereinnahmen und 10 Millionen UAH (335 Tausend Euro) direkt aus der Touristenabgabe. Das sind erhebliche Posten in unserem kommunalen Haushalt”, so der für Entwicklungsfragen zuständige stellvertretende Lwiwer Bürgermeister Andrij Moskalenko.

Restaurantbetreiber in Lwiw Vado Arzumanyan. Foto: K. Rodak

Bis zu 50% der Restaurants sind in ihrer Existenz bedroht

Als am 16. März alle touristischen Einrichtungen und die meisten Geschäfte in der Stadt schließen mussten, bedeutete dies einen schweren Schlag für die Wirtschaft und eine Herausforderung für die Unternehmer. Viele stellten sofort auf Lieferservice um, um ihre Angestellten trotzdem irgendwie entlohnen zu können. Allerdings stellte sich diese Strategie für die Mehrheit der Betroffenen als nicht gangbar dar – oder brachte höchstens die Hälfte der benötigten Erträge ein. Angestellte mussten sich mit zwei Dritteln ihres Lohns begnügen oder wurden in den unbezahlten Urlaub geschickt. 

Lwiw zählt offiziell allein über 800 Restaurants und Cafés. Hier geht man gerne Kaffee trinken, Touristen schätzen die gastronomische Bandbreite. Zwei Monate Schließung haben sich für die Gastronomie zu einer harten Prüfung entwickelt, die auch nach dem Ende der Quarantäne noch lange nicht zu Ende sein wird.

 „Selbst wenn alle Restaurants heute wieder in vollem Umfang bewirten dürften, hätten wir trotzdem keine Gäste. Denn die Leute meiden aus Angst öffentliche Orte und verhalten sich sehr vorsichtig. Und was noch entscheidender ist: Es fehlt ihnen auch das Geld,” so der Lwiwer Restaurantbetreiber Vado Arzumanyan.

Gastwirte, besonders die Besitzer von kleinen Cafés oder Backstuben, machen sich weiterhin große Sorgen um die Zukunft. Nach der Lockerung der Quarantäne am 11. Mai durften Restaurants und Cafés zunächst ihre Außenterrassen wieder öffnen. Die nächste Stufe sieht eine vollständige Öffnung vor, allerdings mit einer Beschränkung der Anzahl der Gäste. In Lwiw gibt es viele sehr kleine Lokale, die unter diesen Auflagen nicht arbeiten werden können. In der Branche geht man davon aus, dass bis zu 50% der Restaurants und Cafés in Lwiw in den kommenden Monaten verschwinden werden.

Etliche Läden in Lwiw mussten schließen. Foto: K. Rodak

Produktion und Handel: Sich anpassen oder protestieren

Auch die in der Region Lwiw ansässigen großen Hersteller hatten während der Quarantäne ihren Betrieb weitestgehend eingestellt, weil sie überwiegend für den Export produzieren. Erst nach den ersten Lockerungen konnten Fabriken wie die von Fujikura oder Leoni, in denen Autoteile und Autoelektronik produziert werden, wieder auf Normalbetrieb hochfahren.

Durchgängig arbeiteten Betriebe, die auf die Herstellung von Mund-Nasen-Schutzmasken und Schutzkleidung umstellen konnten. Dies betraf in der Hauptsache Textilfabriken, in denen vor der Quarantäne Kleidung, Schuhe oder Uniformen genäht wurden. Insgesamt gibt es in Lwiw mittlerweile zwölf Hersteller von Schutzmasken, mit deren Produkten das Krankenhauspersonal versorgt und Apotheken beliefert werden, die die Masken wiederum zum Verkauf an die Bevölkerung anbieten.

Die wichtigste Frage, vor die sich die Geschäftswelt während der Quarantäne gestellt sah, lautete: Wie lange dauert das alles? Besonders dringlich war diese Frage für kleine und mittlere Unternehmen. Große Hersteller und Firmen haben Sicherheitspolster und Rücklagen, doch für das kleine, im Familienbetrieb geführte Café oder den Laden ist eine solche Quarantäne existenzbedrohlich.

„Was kleine und mittlere Unternehmen angeht, war das definitiv ein schwerer Schlag für den gesamten Bereich Handel/Dienstleistungen. Während der Quarantäne haben von 36.000 in der Region registrierten Unternehmen zwischen 2.000 und 3.000 ihren Betrieb aufgegeben. Das ist eine erhebliche Anzahl,“ sagt Stepan Kuybida, Chef der Abteilung Wirtschaftspolitik der Lwiwer Staatlichen Regionalverwaltung.

Die Cafés von Lwiw sind wieder geöffnet. Foto: K. Rodak

Am 1. Mai demonstrierten in Lwiw Vertreter der lokalen Unternehmerschaft und forderten, wieder arbeiten zu dürfen. Die meisten waren Marktstandbetreiber oder Inhaber kleiner Kioske oder Läden. Ähnliche Proteste gab es in anderen Städten der Region Lwiw. Sie mobilisierten zwar keine Massen, doch setzten sie ein Zeichen und waren ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine strenge Quarantäne nicht lange durchgehalten werden kann.

In Lwiw gibt es 25 Märkte unter freiem Himmel, die zwei Wochen komplett geschlossen gewesen waren. Seit dem 1. Mai sind die Märkte wieder geöffnet, allerdings unter strengen Auflagen wie der Einhaltung eines Mindestabstands, ständigem Desinfizieren und Fiebermessungen bei allen Kunden und Verkäufern. Die Märkte sind dadurch tatsächlich hygienischer geworden, doch es kommen jetzt auch sehr viel weniger Käufer.

Hilfen vom Staat für ein Leben ohne Arbeit

Seit den ersten Quarantänewochen steigt in der Region Lwiw die Zahl der Arbeitslosen. Im Verlauf weniger Tage im April wuchs die Anzahl der Menschen ohne Arbeit von 8.500 auf 21.700. In der Phase der strengsten Quarantäneregelungen meldeten sich in einem Zeitraum von zwei Wochen beim regionalen Arbeitsamt täglich 500 bis 550 Menschen arbeitslos. Das sind sehr hohe Zahlen.

Bereits Mitte Mai besserte sich die Lage wieder: Geschäfte öffneten und der Dienstleistungssektor belebte sich. Die Anzahl freier Stellen, im April auf einem sehr niedrigen Niveau, stieg ebenfalls leicht an.

„Wir sehen, dass 35-40% der Arbeitslosen der gesamten Region auf die Stadt Lwiw entfallen. Da die Wirtschaftsstruktur von Lwiw so stark auf den Dienstleistungssektor ausgerichtet ist, gehen wir davon aus, dass sich Lwiw nach der Quarantäne erst wieder vollständig erholen muss, bevor wir in Bezug auf die Arbeitslosigkeit Verbesserungen sehen werden”, resümiert Stepan Kuybida die Sicht der Regionalverwaltung.

Während der Quarantäne offiziell arbeitslos gemeldete Ukrainer und Ukrainerinnen konnten und können staatliche Hilfen beantragen, die je nach Höhe des zuletzt erhaltenen Lohns und der Versicherungsstufe zwischen 1.000 und 8.400 UAH (zwischen 30 und 280 Euro) liegen. Unternehmer erhalten von den Banken Kredite zu günstigen Konditionen und können sich zudem für jede umständehalber nicht geleistete Arbeitsstunde zwei Drittel des Lohns ihrer Angestellten vom Staat vergüten lassen. Allerdings darf die staatlich gewährte Hilfe den ukrainischen Mindestlohn von derzeit 4.723 UAH (160 Euro) nicht überschreiten. Die Unternehmerschaft steht derartigen staatlichen Initiativen zwar skeptisch gegenüber, ist jedoch auf jede Form von Hilfe angewiesen.

Caféterrassen im Zentrum von Lwiw. Foto: K. Rodak

„Sie haben die Maßnahmen ganz an die Erhaltung von Arbeitsplätzen gekoppelt. Man kann das Geld bekommen, wenn man garantiert, dass im Unternehmen die nächsten sechs Monate niemand kündigen wird. Aber wie soll ich das garantieren? Da wurde jede Menge Unsinn beschlossen”, so Restaurantbetreiber Vado Arzumanyan. 

In Lwiw wurden Unternehmen für die Quarantänezeit die Mieten in kommunalen Immobilien gestundet und solche, deren Betrieb zum Erliegen gekommen war, wurden von der Zahlung der vereinfachten Unternehmenssteuer befreit. Hotels, die zu Beginn der Quarantänezeit noch in Betrieb gewesen waren, wurde die Touristensteuer erlassen.

„Wir haben weiterhin in den Supermärkten Produkte aus der Region gekennzeichnet und einen Chatbot entworfen, der über industrielle und handwerkliche Hersteller vor Ort informiert. Wir arbeiten auch an einer Plattform, die die Kooperation zwischen Bauern, Supermärkten und Produzenten intensivieren soll”, sagt Andriy Moskalenko über Initiativen zur Stärkung der lokalen Wirtschaft.

Allein im April riss die Quarantäne ein Loch von 130 Millionen UAH (4,35 Millionen Euro) in den Haushalt der Stadt Lwiw, für Mai wird eine noch höhere Zahl erwartet.

Lwiw setzt zur Rettung auf seine Traditionen

Ab 11. Mai wurden die Quarantänemaßnahmen in Lwiw gelockert. Allerdings entschied man, aufgrund der steigenden Anzahl COVID-19-Erkrankter einige der auf staatlicher Ebene bisher gültigen Regelungen in der Stadt und der Region weiterlaufen zu lassen. Dies gilt zuallererst für die Aussetzung öffentlicher Verkehrsverbindungen zwischen Städten und Regionen. In Lwiw selbst wurde der öffentliche Nahverkehr zu keinem Zeitpunkt der Quarantäne eingestellt, doch ist die Taktung loser und die Anzahl der Fahrgäste beschränkt (woran man sich in der Praxis allerdings kaum hält).

Inzwischen sind die Caféterrassen in Lwiw ebenso wie alle Geschäfte wieder geöffnet und die Stadt erwacht langsam wieder zum Leben. Allerdings funktioniert das Wirtschaftsleben nach strengen Regeln: Abstand halten, desinfizieren, Maskenpflicht. Wer sich nicht an die Bedingungen hält, dem droht die erneute Schließung oder ein Bußgeld. Die Statistik belegt allerdings, dass weniger als 10% der durch Unternehmen oder Privatpersonen begangenen Verstöße auch wirklich geahndet werden.

Die Bürgerinnen und Bürger von Lwiw bleiben derweil ihren Traditionen treu. Als wieder Kaffee zum Mitnehmen verkauft werden durfte, bildeten sich Schlangen vor den Cafés. Nicht, dass man in Lwiw zu viel Geld hätte, doch Kaffee ist in der Stadt einfach Kult, und die Menschen sparen lieber beim Einkaufen oder an Vergnügungen, als mit dieser Tradition zu brechen.

Nach der Lockerung der ersten Beschränkungen strömten die Menschen ins Stadtzentrum, und schon bald kam es wieder zu den üblichen Staus auf den Straßen. Langsam kehren die Menschen an ihren Arbeitsplatz zurück, viele sind zu Fuß unterwegs. Die lokale Politik und Verwaltung legt immer neue Programme für den Weg der Stadt aus der Krise vor. Hierbei geht es vor allem auch um die Wiederaufnahme von kulturellen Veranstaltungen, die ein wichtiger Bestandteil des städtischen Lebens sind.

Der Lwiwer Stadtrat trifft die Mehrzahl seiner Beschlüsse gemäß den Vorgaben der Regierung. In der Coronavirus-Pandemie sind jedoch die wenigsten Entscheidungen endgültig, sie stehen immer unter Vorbehalt. Aufgrund dieser Unsicherheit ist es schwer, Prognosen über die weitere Entwicklung der Lage abzugeben und vorherzusagen, wann Lwiw und damit auch die Region die Krise hinter sich haben werden.

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.

Teil 1 unserer Serie #KD_BridgingTheDistance - Corona in den Regionen: Uschhorod.

Teil 2 unserer Serie #KD_BridgingTheDistance - Corona in den Regionen: Tscherkassy.

Teil 3 unserer Serie #KD_BridgingTheDistance - Corona in den Regionen: Mariupol

 

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